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Unguad

Unguad

Titel: Unguad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Werner
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Meine
Zweifel bildeten sich sicher auf meiner Stirn und meinen Lippen ab, aber
Schwester Marion erwiderte meinen Blick ganz neutral. Keine Spur von Ironie.
Hatte ich mich in ihr getäuscht? War sie so ein harmloses kleines Licht? Oder
spielte sie mir hier nur die Unschuld von Kirchmünster vor? Ich hatte
angenommen, in ihr eine Gleichgesinnte zu finden. Hatte mich wohl geirrt.
    »Danke für Ihre Zeit, Schwester Marion.« Ich erhob mich von meinem
Stuhl und machte, dass ich hier heraus kam. Plötzlich fühlte ich mich in ihrer
Anwesenheit nicht mehr wohl.
    Elf Uhr dreißig
    Magdalena beugte sich konzentriert über ihre Kreuzworträtsel.
    Papageienart mit drei Buchstaben – ARA .
    Fluss durch Polen – DONAU – nein – DRAWA .
Genau.
    Hauptstadt von Bayern – na, das ist leicht
– MÜNCHEN .
    M Ü N C H E N. War schon lange nicht mehr dort. Meine Stadt. Am Isarkanal spazieren gehen.
Südliche Auffahrtsallee. Das Schloss. Die Schwäne. Hab immer altes Brot in den
Manteltaschen. Die Kleine hatte Angst vor den Schwänen, ihr waren die Enten lieber.
Wie oft haben wir die gefüttert. So süß hat sie ausgesehen in ihrem
Wintermäntelchen mit der Fellmütze und dem weißen Muff dazu. Wie ein
Schneeflöckchen. Meine Prinzessin. Hab ihr den Mantel selber geschneidert. Bin
stolz darauf, dass sie so schmuck ausschaut. Nimmt brav meine Hand, als wir
über die Brücke gehen. Zeigt hinunter auf die Enten. Jauchzt vor Freude, wenn
die Viecher ihre Brotkrumen erwischen. So glücklich. Glücklich. Ja. Glücklich.
Damals. Lang ist es her. Lang. Er schnarcht. Ist er doch eingeschlafen. Ist ja
auch schon alt. Alt. Wir sind viel zu alt. Zu nichts mehr nütze. Alt. Was
bleibt einem anderes übrig.
    Des Todes Jugendsünde – ALTER .
    Elf Uhr fünfunddreißig
    Ganz hatte ich es noch nicht aufgegeben, hier jemanden zu
finden, der mir Auskunft geben konnte oder wollte. Über Elvira und ihre
Befindlichkeiten.
    Also wanderte ich umher. Die alte Frau im Rollstuhl, die mir gestern
den Weg zur Kammer gewiesen hatte, saß auch wieder im Gang. Starrte vor sich
hin. Ich wollte vorbeihuschen, da erwachte sie aus ihren Gedanken. Sah mich.
Erkannte mich. Und winkte mich zu sich. Schien dringend zu sein. Zögernd
näherte ich mich ihr. Ich konnte nicht abschätzen, wie fit sie geistig war.
    Sie schwieg.
    »Grüß Gott«, sagte ich. Was sollte ich denn auch sonst reden?
    Immer noch nichts. »Wie geht es Ihnen?« Keine Reaktion. Mir wurde
das zu bunt. Ich richtete mich aus meiner gekrümmten Stellung auf, die ich automatisch
eingenommen hatte, um nicht hochnäsig von dort oben, aus der dünnen Luft der
Gehenden, zu ihr hinunterzublicken. Da packte sie mich am Ärmel meiner Jacke.
Kräftig. Erschreckend.
    Wahrscheinlich hatte ich meine Augen aufgerissen. Sie jedenfalls stierte
hinein. Wie die böse Hexe im Walt-Disney-Film. Dunkle Schatten unter den alten
Augen. Weißes Pergamentgesicht.
    »Die Elvira war bös«, raunte sie mir zu. Ich versuchte, mehr Distanz
zu ihr zu bekommen, aber sie krallte sich fest. Also war ich gezwungen, in der
unbequemen Stellung zu verharren.
    »Wieso?«
    »Ganz bös.« Ihre trüben Augen weit geöffnet. Ohne zu blinzeln.
    »Ja, aber warum?«
    »G’schlagen hat sie mich.«
    »Geschlagen?«, fragte ich konsterniert nach.
    »Ja, immer wenn i … na! … die Windel … na! … ausg’laufen is! Da!«
Sie ließ mich los und zerrte den Ärmel ihres dünnen, hellblauen Pullovers
mühsam nach oben. Ich blickte darauf. Sah bis auf große, braune Altersflecke
nichts. Sie schaute ebenfalls auf ihren mageren Arm hinab. Konnte auch nichts
erkennen. Angespannt riss sie den Stoff des anderen Ärmels hoch. Und dort:
Hämatome. Alte Blutergüsse, die der erlöschende Stoffwechsel noch nicht
abgebaut hatte. Grau-lila. Hässlich. Alle beide starrten wir auf diese Zeichen
der Misshandlung.
    »Haben Sie das denn nie jemandem gezeigt?«
    Mit einer unwirschen Bewegung schob sie den Stoff wieder nach unten.
Hielt den Blick gesenkt und wedelte mit ihrer rechten Hand, gerade so, als ob
sie eine lästige Fliege verscheuchen wollte.
    »Weiß jemand dav…?« Mit dem linken Rad ihres Rollstuhls war sie
knapp an meinen Zehen vorbeigerollt, das Leder meines Schuhs hatte sie noch
erwischt. Ich war perplex. Mein Mund stand offen, als ich ihr hinterherschaute.
Sie bog um die Ecke und war in der »Stube«, dem gemeinschaftlichen Wohnzimmer
verschwunden. Was sollte das? Warum redete sie nicht vernünftig mit mir? Ich
ging ihr langsam nach und warf

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