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Unheil

Unheil

Titel: Unheil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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sie mit einer kalten Wut, aber auch erneuter
Sorge. Ohne irgendein geeignetes Werkzeug würde sie Tess vermutlich ebenfalls
verletzen, wenn sie versuchte, den Draht zu entfernen.
    Conny warf einen raschen, sichernden Blick zur Tür – dahinter rührte
sich nichts – bevor sie sich vor Tess in die Hocke sinken ließ und versuchte,
ihren Blick einzufangen. Ohne Erfolg.
    Â»Tess, verstehst du mich?«
    Das Mädchen starrte einfach mit leerem Blick durch sie hindurch.
Conny versuchte weitere zwei oder drei Sekunden lang, ihren Blick festzuhalten,
dann streckte sie die Hand aus und zwang Tess mit sanfter Gewalt, sie
anzusehen, ohne ihren schwächlichen Widerstand auch nur zur Kenntnis zu nehmen.
    Â»Hör mir zu, Kleines«, sagte sie. »Ich weiß, wie du dich fühlst. Du
hast große Angst, aber jetzt ist alles in Ordnung. Ich bringe euch hier raus,
doch dazu muss ich dich erst losmachen, hast du das verstanden? Versuch nicht,
dich selbst loszureißen. Ich suche irgendetwas, um diese Drähte
durchzuschneiden, okay?«
    Tess’ Blick blieb leer, aber sie hatte keine Zeit, um ihr so lange
und beruhigend zuzureden, wie es notwendig gewesen wäre. Sie sah sich suchend
um, dann ging sie zu dem bewusstlosen Jungen hin und durchwühlte seine Taschen.
Sie waren vollkommen leer – was sie bei einen Berufsverbrecher kein bisschen
überrascht hätte, bei diesem halben Kind dafür umso mehr – doch bei seinem
älteren Kumpan wurde sie fündig, wenn auch nicht auf Anhieb.
    Als sie neben ihm niederkniete, rang er zwar noch immer röchelnd und
mit mäßigem Erfolg nach Atem, was ihn aber nicht davon abhielt, schwächlich
nach ihr zu schlagen; oder es wenigstens zu versuchen. Conny überzeugte ihn
davon, dass das keine wirklich gute Idee war, indem sie ihm einen Schlag mit
der flachen Hand versetzte, der nicht nur sein Gesicht mit seinem eigenen
Erbrochenen, sondern auch seine Stirn ziemlich unsanft mit dem rostigen
Eisenboden kollidieren ließ. Danach durchsuchte sie seine Taschen. Sie fand ein
Springmesser (das sie einsteckte), eine angebrochene Packung Mentholzigaretten
und eine Rolle haardünnen Kupferdraht … und einen Seitenschneider mit rotem
Kunststoffgriff. Sie nahm ihn an sich, ging rasch zu Tess zurück und knipste
die dünnen Drähte durch, ohne Tess oder sich selbst weitere Blessuren
zuzufügen. Das Mädchen ließ langsam die Arme sinken und gab ein leises,
erschöpft klingendes Seufzen von sich; der erste Laut, den Conny überhaupt von
ihr hörte, seit sie hereingekommen war.
    Â»Deine Hände!«, verlangte sie. Tess reagierte nicht, sodass sich
Conny rasch in die Hocke sinken ließ, ihre Arme ergriff und mit sanfter Gewalt
zu sich heranzog, um ihre Handgelenke zu untersuchen. Sie waren zerschunden und
blutig, aber es waren nur oberflächliche Schnitte und Kratzer; sicherlich sehr
schmerzhaft, doch keinesfalls lebensbedrohlich.
    Â»Gut«, sagte sie. »Ich bringe euch jetzt hier raus, hast du das
verstanden? Aber du musst allein gehen. Ich muss mich um Mirjam kümmern und
kann dich nicht tragen. Tess?«
    Der Blick des Mädchens fiel einfach weiter durch sie hindurch, auch
wenn er jetzt nicht mehr so leer war, sondern auf einen Punkt gerichtet und von
etwas erfüllt, das sie weder erkennen konnte noch wollte.
    Â»Tess!«, sagte sie noch einmal. Tess reagierte auch jetzt nicht, und
Conny zog sie auf die Füße und wartete, bis sie sicher war, dass sie aus
eigener Kraft stehen konnte. Erst dann beugte sie sich zu Mirjam hinab und half
auch ihr in die Höhe, was sich als wesentlich schwieriger erwies. Das Mädchen
war mehr bewusstlos als wach. Ihre Wunde hatte aufgehört zu bluten, auch wenn
es aus dem durchnässten Verband noch immer rot zu Boden tropfte, aber die Hand
und der Unterarm begannen sich bereits blau zu färben. Ihr Gesicht war unter
all dem Schmutz und eingetrockneten Blut so bleich, dass Conny sich beherrschen
musste, um sich ihren Schrecken nicht allzu deutlich anmerken zu lassen; auch
wenn das Mädchen sicherlich nicht in einer Verfassung war, es überhaupt zu
bemerken.
    Â»Kannst du allein gehen?«, fragte sie. Sie hatte nicht mit einer
Antwort gerechnet und bekam auch keine, sodass sie sich Mirjams unversehrten
Arm über die Schulter legte und sich umdrehen wollte, um zu gehen, dann aber
etwas tat, was ihr im ersten Moment selbst vollkommen sinnlos erschien:

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