Unheil ueber Oxford
Elternteil erzogen wurde.
Den Namen des Jungen habe ich vergessen – jedenfalls war es der Bengel in der Schulbank hinter mir, ein Typ mit schwarzem Haar und kleinen, braunen Knopfaugen, der mich oft kniff und mir auf die Füße trat, der mit der Lästerei begann.
»Du hast ja keine Mutter«, sagte er.
Ich brauchte einige Zeit, ehe ich verstand. Er ließ nicht locker, und irgendwann kapierte ich.
»Deine Mutter ist tot«, sagte er. Inzwischen waren die anderen Kinder aufmerksam geworden. Eines von ihnen machte ein spöttisches Geräusch, das klang wie »Nyeah«. Andere fielen ein. Da erst bemerkte der Lehrer den Vorfall und hielt uns eine Standpauke.
»Ich habe jedenfalls eine Mutter, und die anderen auch«, zischte mein Widersacher zwischen seinen grünlichen Zähnen hindurch. »Aber du hast keine! In der Pause bekommst du eins drauf!« Gesagt, getan. Es war das erste und einzige Mal, dass ich es bedauerte, keine Mutter zu haben.
Danach begann ich, auf dem Schulweg die Mütter der anderen zu beobachten. Ich war nicht sonderlich beeindruckt. Sie schimpften und schlugen rücksichtslos auf nackte Beine ein. Ihre Gesichter wiesen grimmige Falten auf, und hätte ich damals schon auf solche Dinge geachtet, hätte ich festgestellt, dass ihre Körper an Festigkeit verloren hatten und ihre Kleider alt, hässlich und oft mit ausgespuckten Essensresten von den jüngeren Geschwistern meiner Klassenkameraden bekleckert waren.
Natürlich hatte ich nach dem Tod meiner Mutter eine Kinderfrau, die auf mich aufpasste, wenn mein Vater seinem Beruf nachging. Ich erinnere mich, dass sie zartfühlend, aber eher dumm war – eine Nachbarin mit eigenen Kindern, die das zusätzlich verdiente Geld in Urlaubsreisen ins Ausland und Katalogwaren anlegte. Sie, oder auch irgendeine andere Nachbarin, machte mir meinen Tee, als ich in die Schule kam, doch ich war zunehmend gern auch allein zu Hause. Ich war in der Lage, einfache Einkäufe zu erledigen und den Tisch zu decken; ich legte einfach Besteck auf die Wachstuchdecke und stellte die Teller mit dem blauen Rand hin. Mehr brauchten wir nicht für unsere Mahlzeiten. Nach dem Essen räumten mein Vater und ich gemeinsam ab, wischten die Tischdecke sauber und spülten die wenigen Utensilien.
Wir kamen gut miteinander aus. Er legte keinen allzu großen Wert auf Sauberkeit. Staub oder alte, graue Socken und Kaffeetassen, die unter dem Bett vor sich hin moderten, machten ihm nichts aus. Doch er versuchte immer, rechtzeitig zum Abendessen zu Hause zu sein, das oft aus Fisch und Fritten bestand und direkt aus der Tüte am Tisch verzehrt wurde. Noch heute erinnere ich mich an den Anblick des fettigen Papiers und den Geruch nach Essig und altem Öl. Wir aßen mit den Fingern, leckten sie anschließend ab und jagten uns gegenseitig die knusprigen Krümel ab, die am Papier hängen geblieben waren.
»Zum Nachtisch gibt es Erdbeereis«, pflegte er nach dem Essen zu sagen. Und zum Schluss machte er uns zwei große Tassen Tee.
Sie müssen nicht glauben, dass ich ein vernachlässigtes Kind war oder eine unglückliche Kindheit hatte. Weit gefehlt. Wenn mein Vater sich daran erinnerte, dass ein Körper Vitamine braucht, gab er mir Äpfel und Karotten zu essen. Bei uns zu Hause gab es hundert Mal mehr Bücher als bei meinen Klassenkameraden. Sonntags vergruben wir uns in Bergen von Zeitungen. An den Wochenenden besichtigten wir Schlösser und Museen und nahmen ein Picknick mit. Wir machten Fahrradausflüge und aßen unsere Schinkenbrote auf dem Rasen vor irgendeiner Prachtvilla. Und wir redeten miteinander. Wir redeten ständig miteinander. Kein Thema war tabu. Ich glaube, mein Vater genoss meine Gesellschaft. Vielleicht genoss er es auch, mit jemandem zu sprechen, dessen Ansichten ganz von ihm allein geprägt worden waren.
Sicher werden Sie verstehen, dass ich nicht sonderlich erfreut war, als Dianne Kemp in mein Leben trat.
Als sie zum ersten Mal zum Tee kam, wichen die Augen meines Vaters meinem Blick aus. Ich ahnte, dass er ein Geheimnis vor mir hütete, und war durchaus nicht erbaut. Sie schienen zu vertraut miteinander zu sein, sprachen zu vieles nicht aus, als dass sie sich erst seit kurzer Zeit kennen konnten.
Den Freitagabend und Samstagmorgen hatten wir damit verbracht, die Wohnung auf Hochglanz zu bringen, ohne dass ich eine Notwendigkeit dafür sah. Wenn ich heute zurückblicke, wird mir klar, dass mein Vater und ich auf einer Müllkippe wohnten. Nicht wirklich schmutzig, verstehen Sie,
Weitere Kostenlose Bücher