Unheilige Gedanken auf dem Heiligen Weg, mein Jakobsweg quer durch Spanien
doch die Welt, und „el Brasilero“, den wir so nennen, weil das einzige, was wir von ihm verstehen, ist, dass er aus Brasilien kommt. Einer von ihnen macht ein Foto von mir. Wenn ich mir dieses Foto heute ansehe, wundere ich mich, wie fertig ich schon da aussehe, an meinem ersten Pilgertag. Ich habe absichtlich meinen Fotoapparat zu Hause gelassen. Nicht nur wegen des zusätzlichen Gewichts. Ich wollte alles bewusst und mit dem Herzen aufnehmen. Nicht ständig durch den Blick der Linse auf Motivsuche sein. Natürlich tat es mir später daheim leid, dass ich keine Fotos hatte, außer den wenigen, die mir Mitpilger netterweise zugeschickt haben.
Wir drei gehen den weiteren Weg zusammen. Bertl ist in den Sechzigern und el Brasilero ist ein Junge so um die zwanzig. Beide haben den flotten Schritt drauf, wie ich ihn gehe. Es gibt auch keine Aussicht zu bewundern, es gilt nur, durch diese kalte, nasse, graue Gegend zum Ziel nach Jaca zu kommen, bergab über den alpinen, rutschigen Steig. Auf dem Weg gibt es zusätzlich zu den Strapazen des matschigen Untergrundes und des Regens, der mein Gesicht taub werden lässt vor Kälte, noch ein gewaltiges Hindernis zu bewältigen.
Wir kommen an einen breiten, reißenden Gebirgsbach, den Río Juez, der jetzt Hochwasser führt vom schmelzenden Schnee. Es gibt keine Brücke, nur eine Furt. Diese wird über unterschiedlich hohe Trittsteine begangen, die im Abstand von ca. einem halben Meter über den Fluss führen. So steht es in meinem Führer. Es steht aber auch drin, dass diese Furt bei Hochwasser nicht passierbar ist. Jetzt sind die Trittsteine umspült von gurgelndem Wasser. Es gibt zwei Möglichkeiten: laut Karte gibt es einen Umweg von ca. fünf Kilometern, diesen wählt Bertl und fordert mich auf, mit ihm zu gehen. El Brasilero nimmt die zweite Variante. Er springt von Stein zu Stein über den Fluss und winkt von drüben aufmunternd zu mir herüber. Ich denke fieberhaft nach. Ein Umweg von fünf Kilometern bedeutet eine Stunde länger zu marschieren. Da die erste Etappe sowieso schon 30 km lang und mit achteinhalb Stunden angesetzt ist, kann ich mir das nicht vorstellen. Also muss ich über den Fluss. Ich steige auf den ersten Stein, nehme meine Wanderstöcke quer vor die Brust, um wie auf einem Hochseil zu balancieren.
Hinter mir höre ich Bertl schimpfen, wie leichtsinnig das sei und dass ich sofort umkehren solle. Ich spüre in mich hinein. Es ist richtig so, fühle ich, und mache einen großen Schritt auf den nächsten Stein. Alles ist glitschig und unter mir gurgelt das Wasser und bildet Strudel, die mir klar machen, dass ich auf keinen Fall da hinein fallen darf! Würde ich abrutschen und im Fluss landen, wären nasse Klamotten die geringste Sorge, die ich dann hätte, so wild wie das Wasser tost. Vor allem die kantigen Felsbrocken, an denen das Wasser hochspritzt, wenn es dagegen platscht, machen mir Sorgen. Santiago hilf! Ich erreiche den nächsten Stein. Ich schaue nach unten in die Schaumkronen, was sich als Fehler herausstellt, weil ich sofort die Balance verliere. Ich rudere mit beiden Armen und den Stöcken und springe ohne Nachzudenken auf den nächsten Stein. Nun bin ich in der Mitte des Flusses und es gibt nur noch eine Richtung: Vorwärts! El Brasilero feuert mich mit Schreien an: „!Dale! Ven con migo!" Ich verstehe nichts, aber es ermutigt mich, zum nächsten Stein zu springen. Und jetzt kapiere ich es: Ich muss springen, nicht langsam balancieren! Ich schaffe es, von einem Stein zum nächsten zu springen und bevor ich rutsche wieder zum nächsten. Ich bin jetzt hochkonzentriert, lasse mich von nichts ablenken, auch nicht von meinen ängstlichen Gedanken. Mein letzter Sprung: Mein Fuß landet auf festem Grund. Ich bin drüben. Ich falle auf die Knie, danke Santiago und nun schüttelt mich ein befreiendes Schluchzen. Die Anspannung war zu groß, der Weg zu lang, der Rucksack zu schwer und ich bin einfach nur fertig. Der junge Brasilero weiß nicht viel mit mir anzufangen und bedeutet mir, dass er schon weiter gehe. Das ist gut, denn ich brauche jetzt wirklich eine Pause, muss mich sammeln, mir gut zureden und mich selbst wieder aufbauen.
Ich krame meinen Wanderführer heraus, um zu schauen, wie ich weitergehen muss. Da lese ich nochmal und jetzt erst bewusst, was da gleich zu Beginn der ersten Etappe steht: „Vorweg eine Warnung: Die Etappe vom Somportpass nach Jaca ist anders als alle anderen. Sie ist anstrengend und lang. Es wird empfohlen, unbedingt
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