Unheilvolle Minuten (German Edition)
überraschten Blick zu. »Er ist in Rente, aber er war tatsächlich mal bei der Polizei. Woher wusstest du das?«
»Diese Versager erkenne ich blind.«
»Klingt, als hättest du was gegen Polizisten«, sagte ich.
Tyler antwortete nicht. Wir befanden uns jetzt in Premium Point, einer geschlossenen Wohnanlage auf einer schmalen Landzunge, die in die Meerenge hineinragte. Tyler fuhr langsam durch die von dunkel daliegenden Rasenflächen und großen Villen gesäumte Straße.
»Wir wohnen da hinten ganz am Ende«, sagte ich.
Wenig später hielt Tyler in der kreisförmigen Auffahrt und betrachtete durch die Windschutzscheibe stumm die beeindruckende Fassade des Anwesens, das mein Zuhause war. Mir kam der Verdacht, dass ihm womöglich gerade wieder einfiel, dass er Lucy eben noch als »Bonzenzicke« bezeichnet hatte. Schade. Ich hatte mir so große Hoffnungen gemacht, dass wir uns heute Abend näherkommen würden, sogar von einem Abschiedskuss hatte ich geträumt. Aber da hatte ich mir vielleicht zu viel erhofft. Eine gemeinsame Schicht für den Schülerfahrdienst war nun mal kein heißes Date.
»Danke, dass du mich nach Hause gefahren hast.« Ich griff nach meinem Rucksack.
»Warte noch kurz.« Tyler drehte sich zu mir um, und als sich unsere Blicke in der Dunkelheit begegneten, begann mein Herz schneller zu schlagen. Würde er mir jetzt sagen, dass er sich gern mal mit mir treffen wollte? Dass er sich auch die ganze Woche auf diesen Abend gefreut hatte?
Aber dann sagte er nur: »Tut mir leid. Das war mir nicht klar.«
Er musste nicht erklären, was ihm leidtat. Von all den großen Häusern und Anwesen in Soundview standen die schönsten in Premium Point und von diesen wiederum war unser dreistöckiges »Schlösschen« im Tudorstil, das am Ende der Landspitze stand und von drei Seiten von Meer umgeben war, das imposanteste.
»Das muss dir nicht leidtun«, sagte ich. »Aber … na ja, es ist nicht immer alles so, wie es aussieht, okay? Vielleicht ist nichtjedes Mädchen, dessen Eltern Geld haben, automatisch eine Bonzenzicke.«
»Hab ich ja auch nicht behauptet«, verteidigte sich Tyler. »Ich hab bloß gesagt, dass Lucy eine ist. Ich … ich halte dich nicht für eine Bonzenzicke. Überhaupt nicht. Ich finde dich sogar sehr nett.«
»Das freut mich. Danke«, sagte ich. Und wie ich mich freute.
Ich stieg aus, ging zum Haus, schloss die massive Holztür auf und stellte die Alarmanlage so ein, dass ich genügend Zeit hatte, nach oben in mein Zimmer zu kommen, ohne dass sie losging. Obwohl ich vor Erschöpfung kaum die Augen aufhalten konnte, warf ich vor dem Zubettgehen gewohnheitsmäßig noch schnell einen Blick ins Internet. In meinem Postfach wartete eine Nachricht von meinem Cyberstalker PBleeker:
Ich hab mal mitgekriegt, wie du gesagt hast, dass du die Cliquenwirtschaft an der Schule bescheuert findest, aber ich wette, dass du dich trotzdem nie mit jemandem wie mir abgeben würdest. Du tust zwar immer so, als hättest du keine Vorurteile, aber manchmal denke ich, dass du in Wirklichkeit vielleicht doch genau wie die anderen bist und Menschen nur nach Äußerlichkeiten beurteilst. Okay, ich weiß, dass du nicht so arrogant bist wie sie, weil du eigentlich immer zu allen nett bist. Aber warum hängst du dann nur mit den Leuten aus der In-Clique ab?
Als ich den Laptop zuklappte, bereute ich es, meine Mails abgerufen zu haben. »Ich hab mal mitgekriegt, wie du gesagt hast … Du tust immer so …« Kannte dieser PBleeker mich wirklich so gut oder spielte er (oder war es eine sie ?) mir das nur vor, um mir Angst zu machen? Ich hatte keine Ahnung. Ich wusste nur, dass PBleeker seit etwa einem Jahr ein regelmäßig wiederkehrenderFluch in meinem Leben war – so ähnlich wie meine Periode oder Pickel.
Ich legte mich mit dem unbehaglichen Gefühl ins Bett, das mich jedes Mal beschlich, wenn ich eine Nachricht von PBleeker bekommen hatte. Manchmal lag ich danach noch stundenlang wach. Aber diesmal nicht. Schließlich war der Abend mit Tyler doch noch besser ausgegangen als befürchtet. Und das – zusammen mit meiner überwältigenden Müdigkeit – half mir ziemlich bald einzuschlafen.
Robert Cormier wurde 1925 geboren, arbeitete zunächst als Journalist und begann dann bald Romane und Kurzgeschichten für Erwachsene zu schreiben. International bekannt wurde er jedoch mit seinen Jugendbüchern, die sich vor allem durch ihre realistische, ehrliche und immer spannende Erzählweise auszeichnen. Im Carlsen
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