Unheimlicher Horror: d. übernatürl. Grauen in d. Literatur ; Essay
spielen werden. Es lässt sich wahrhaft sagen, dass Poe die Kurzgeschichte in ihrer jetzigen Form erfunden hat. Dass er Krankheit, Perversität und Verfall zu Themen erhob, die künstlerisch ausgedrückt werden konnten, war ebenfalls von weitreichender Wirkung; denn gierig aufgegriffen, gefördert und intensiviert von seinem eminenten französischen Bewunderer Charles Pierre Baudelaire, wurde diese thematische Erweiterung zum Kern der wesentlichen ästhetischen Bewegungen in Frankreich, was Poe in einem gewissen Sinn zum Vater der Dekadenz-Dichter und der Symbolisten macht.
Als Dichter und Kritiker von Natur aus und durch deren höchste Entfaltung, als Logiker und Philosoph aus Neigung und durch deren gepflegte Eigenart, war Poe keinesfalls frei von Schwächen und Affektiertheiten. Der Anschein tiefer und obskurer Gelehrtheit, den er sich gab, der gestelzte und schwerfällige Pseudo-Humor, an dem er sich stümpernd versuchte, und seine oft vitriolischen Ausbrüche kritischen Vorurteils: das alles gilt es zu erkennen und - zu vergeben. Und es schrumpft zur Bedeutungslosigkeit, denn hinter allem und über allem stand die Vision eines Meisters: vom Terror, der um uns und in uns lauert, und vom Wurm, der im grässlich nahen Abgrund sich windet und geifert. Diese Vision durchdrang jedes schwärende Grauen in dem bunt bemalten Blendwerk, das sich Existenz nennt, und in der feierlichen Maskerade, die sich menschliches Denken und Fühlen nennt, und besaß somit die Kraft, sich in schwarz-magischen Kristallisiationen und Transmutationen niederzuschlagen, bis dann im unfruchtbaren Amerika der dreißiger und vierziger Jahre solch ein mondgenährter Garten prächtiger Giftpilze erblühte, dass womöglich nicht einmal die tiefen Senken des Saturn mit einem ähnlichen prahlen konnten. Gedichte und Erzählungen tragen gleichermaßen die Bürde kosmischer Panik. Der Rabe, dessen ekler Schnabel ins Herz hackt, die Dämonen, die Eisenglocken läuten in pestilenzialischen Türmen, die Gruft von Ulalume in der schwarzen Oktobernacht, die herzerschreckenden Türme und Kuppeln unter dem Meer, das »wild, weird clime that lieth, sublime, out of Space - out of Time«: diese und viele Dinge mehr blicken uns tückisch an inmitten rasenden Gerassels im brodelnden Alptraum der Poesie. Und in der Prosa klafft vor uns der wahre Rachen des Abgrunds - unvorstellbare Abnormitäten werden verstohlen angedeutet, bis sie zur halben Gewissheit werden, und zwar durch Worte, deren Unschuld wir kaum bezweifeln, bis die zersprungene Spannung der hohlen Stimme des Sprechers uns gebietet, deren namenlose
Folgen zu fürchten; dämonische Schemen und Wesen schlummern verderblich, bis sie für einen phobischen Augenblick zu einer gellenden Offenbarung geweckt werden, die sich selbst in jähen Wahnsinn hineinschnattert oder in denkwürdigen und kataklysmischen Echos explodiert. Ein Hexensabbat des Grauens, der alle schmückenden Gewänder abwirft, blitzt vor uns auf - und der Anblick ist um so ungeheuerlicher, da jede Einzelheit mit wissenschaftlicher Fertigkeit arrangiert ist und in eine mühelose, einleuchtende Beziehung zur bekannten Grausigkeit des realen Lebens gesetzt wird.
Poes Erzählungen fallen selbstverständlich in verschiedene Klassen, von denen manche das geistige Grauen in reinerer Essenz enthalten als andere. Die Erzählungen der Logik und der vernünftigen Schlussfolgerungen, Vorläufer der modernen Detektivgeschichten, dürfen überhaupt nicht der unheimlichen Literatur zugerechnet werden, während andere, vermutlich beträchtlich von Hoffmann beeinflusst, eine Extravanganz besitzen, die sie ins Grenzgebiet des Grotesken verweist. Eine dritte Gruppe handelt von abnormer Psychologie und Monomanie auf eine solche Weise, dass sich in diesen Erzählungen zwar Entsetzen, doch nichts Unheimliches ausdrückt. Ein wesentlicher Rest jedoch stellt die Literatur des übernatürlichen Grauens in ihrer entschiedensten Form dar und gibt dem Autor seine bleibende und unangreifbare Stellung: als Gott und Ursprung aller modernen diabolischen Literatur. Wer kann das schrecklich geschwollene Schiff auf dem Wogenkamm am Rande der Kluft aus »MS. Found in a Bottle« vergessen - die dunklen Ahnungen über sein heilloses Alter und seine ungeheure Größe, seine finstre Mannschaft von Graubärten, die nicht sehen können, sein entsetzendes Drängen nach Süden unter vollen Segeln durch das Eis der antarktischen Nacht, weiter im Sog einer unwiderstehlichen
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