Unscheinbar
beförderte der Fahrstuhl die verwirrte und leicht verärgerte Emma ins Erdgeschoss.
Der Tag neigte sich dem Ende zu und der Hof lag in einem unwirklichen Halbschatten. Während Emma aus dem Wohntrakt in dieses zwiespältige Dämmerlicht trat, standen weiter oben zwei Menschen am Fenster und sahen ihr nach.
„Wird sie es tun?“ Rosaria wandte den Blick nicht von der blonden Frau im Hof ab.
„Ich bin mir nicht sicher. Die Zeit wird es zeigen.“
„Sicher. Aber ausgerechnet die rennt uns davon.“
Aufgewühlt von dem Gespräch mit Martin musste Emma erst tief durchatmen.
Was bildete sich dieser alte Mann eigentlich ein? Erst lud er sie freundlich ein, dann verjagte er sie plötzlich wieder, und schliesslich hatte er noch das Gefühl, ihr Beziehungsratschläge geben zu können, dabei kannte er sie doch überhaupt nicht!
Sie war wütend und liess alle Verkehrsteilnehmer daran teilhaben. Viel zu schnell raste sie durch die Strassen, sie bremste zu abrupt und gab Gas, dass der Motor aufheulte und die Reifen quietschten. Obwohl sie nach Hause wollte, fuhr sie doch zu Joschuas Wohnung. Einfach, um Martin, der nicht einmal anwesend war, und sich selbst zu beweisen, dass alles in bester Ordnung war.
Der Lift fuhr direkt in sein Luxusappartement. Emma trat aus der Kabine in die Wohnung. Sie wusste, das Joschua mittwochs im Fitnessstudio trainierte und deshalb spät nach Hause kam, aber sie wollte auf ihn warten. Sie brannte darauf ihm von dem erfolgreichen Hausverkauf zu erzählen.
Sie erwartete alles dunkel und still. Umso erstaunter war sie, als sie leise Stimmen aus dem hinteren Bereich der Wohnung vernahm. Ungläubig schlich sie den Gang entlang, dorthin, wo das heimische Büro und das Schlafzimmer lagen. Ein Lichtschimmer lugte unter der Bürotür hervor, aber die leisen Stimmen kamen aus dem Zimmer daneben, das scheinbar im Dunkeln lag. Seltsam. Überraschte sie etwa gerade Einbrecher? Obwohl ihr dieser Gedanke den Puls in die Höhe trieb, griff sie beherzt nach dem antiken, dreiarmigen Kerzenständer, der auf dem Sideboard thronte. Den Arm mit dem Kerzenständer schlagbereit erhoben, drückte sie behutsam die Türklinke nach unten. Geräuschlos schob sie die Tür langsam auf. Der Lichtstrahl des Korridors fiel in das Zimmer und schliesslich auf das grosse Wasserbett. Entsetzt stellte Emma fest, dass sich jenes bewegte.
Entweder wegrennen oder zuschlagen. Wegrennen oder zuschlagen?
Zuschlagen.
Sie eilte auf das Bett zu, umfasste den Kerzenleuchter auch noch mit der zweiten Hand und liess in schwungvoll niedersausen. Da begegnete ihr ein Augenpaar. Gerade noch rechtzeitig stoppte sie in der Bewegung. Die Decke wurde heruntergerissen und der passende Körper zu den Augen fuhr in einem Ruck hoch.
„Emma! Was tust du hier?“
Sofort liess Emma den Kerzenständer fallen. „Joschua! Was tust du hier?“
„Zufällig wohne ich hier.“
„Wie bitte?“ Verwirrt rieb sich Emma übers Gesicht.
„Ich wohne hier. Und welche Erklärung hast du für deinen Auftritt?“
Konnte es heute eigentlich noch schlimmer werden? Erneut holte Emma tief Luft und atmete konzentriert aus. Langsam hörten ihre Hände zu zittern auf. „Ich wollte dich überraschen. Da hörte ich Stimmen aus deinem Zimmer und da du doch im Training sein solltest, dachte ich, es wäre eingebrochen worden.“
Joschua belächelte sie nur milde. „Und die Einbrecher wolltest du mit meinem Kerzenständer aus meinem Bett verjagen?“
„So ähnlich.“ Plötzlich kam sie sich dumm vor. Aber sie schöpfte neuen Mut. „Entschuldige. Eigentlich wollte ich dir erzählen, dass ich das Haus verkauft habe.“
„Welches Haus?“ Gleichmütig schob sich Joschua an Emma vorbei und aus dem Bett heraus.
„Na, das Haus in den Hügeln, das ich so schlecht an den Mann bringen konnte.“
„Ah, ja, sicher. Das ist toll, Schatz.“ Beiläufig gab er ihr einen leichten Kuss auf den Scheitel und tätschelte ihre Wange. Dann knöpfte er weiter das Hemd zu.
Emma sah ihm auf die Finger. „Seit wann lässt du deine Hemden auf dem Boden herumliegen?“
„Hm?“ Er drehte sich halb zu ihr um.
Der Gedanke kam verzögert, aber nun liess er sich nicht mehr abschütteln. „Und was tust du um diese Zeit, an einem Mittwoch, zu Hause im Bett?“
„Der Tag war lang, da gönnte ich mir einfach eine Pause.“
Das passte nicht unbedingt zu ihm, klang aber plausibel. Emma war gewillt, ihm zu glauben. Sie
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