Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unscheinbar

Unscheinbar

Titel: Unscheinbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anja Berger
Vom Netzwerk:
zurückkehrte und Bens Mutter, eine Angestellte des Hauses. Dennoch, die Familie in diesem Haus hatte ein Herz, in dem weit mehr Menschen Platz fanden, als man es sich vorstellen konnte. So dauerte es nie lange, bis ursprünglich Fremde Teil der Familie Reich wurden.
    So erzählte es zumindest Bens Mutter. Er selbst kam erst etwas später auf die Welt. Er hatte nie die Möglichkeit gehabt diese aussergewöhnliche Familie persönlich kennenzulernen. Nach wie vor fiel es ihm auch schwer, den fröhlichen Geschichten seiner Mutter zu glauben.
    Denn er kannte nur einige aus düsteren Zeiten. Damals, als diese Familie am Abgrund stand. Und schliesslich abstürzte.
    Am lebhaftesten war Ben die Erinnerung an die Frau, die an gebrochenem Herzen starb. So hatten er und die anderen in seiner Schule diese traurige Geschichte genannt. Damals, als sie alle zusammensassen und sich nach Einbruch der Nacht in der Bretterruine des alten Reichhofs die Schauergeschichten erzählten. Denn dazu waren sie zum Unmut seiner Mutter verkommen.
    Zu Schauergeschichten.
     

Strang 2 / Kapitel 4
     
    Auch in dieser Nacht sass Miriam Reich in ihrem hölzernen Schaukelstuhl. Gestern hatte sie Hemden repariert, heute stopfte sie Socken. Ein Blick auf die grosse Pendule an der gegenüberliegenden Zimmerwand verriet ihr, dass Ruben auch heute nicht nach Hause zu kommen schien. Betrübt senkte sie den Kopf. Sie kannte die Abläufe ihrer Arbeit im Schlaf. Ihr Gehirn brauchte sie dafür nicht mehr anzustrengen. Das Problem war nur, wenn sie ihre Gedanken nicht mit den Näharbeiten beschäftigen konnte, machten sie sich selbständig. Wo blieb er nur? Der Sommer war vorüber. Die anderen hatten ihr Vieh alle in einem festlichen Abzug von der Alp zurück in die heimischen Ställe getrieben. Nur er nicht. Gelacht hatten sie über ihn. Dass er den Tag verschlafen hätte, sagten sie. Mit dem Selbstgebrannten wäre er nun verheiratet, lästerten sie. Aber Miriam glaubte ihnen nicht. Keine Sekunde lang. Es musste ihm etwas zugestossen sein. Anders konnte sie sein Fernbleiben nicht erklären. Aber niemand hörte ihr zu. Niemand wollte ihn suchen. Alle fürchteten sie den ersten Schnee. Sie sorgten sich um ihre eigene Sicherheit. Egoisten.
    Immer schmaler wurden Miriams Lippen, während ihre Gedanken weiter dahinzogen, immer tiefere Falten gruben sich in ihre Stirn. Plötzlich fühlte sie die Gewissheit.
    Sie würde ihn niemals wiedersehen.
    Doch da krachte vor der Haustüre etwas zu Boden. Ein leiser Fluch war zu vernehmen. Dann klopfte es beinahe schüchtern gegen die Scheibe des kleinen Fensters in der stabilen Holztür.
    Erfüllt von neuer Hoffnung zögerte Miriam keine Sekunde. Alle Vorsicht vergessend schoss sie aus dem Schaukelstuhl hoch und eilte zur Tür. Übermütig riss sie sie auf.
    Und ihr Lächeln erstarb.
    „Was willst du hier? Weisst du, wie spät es ist?“ Sie wollte ihn nicht hereinlassen, aber ihre Mutter hatte sie zu Anstand erzogen. Wenn sie auch sonst keinen Hehl aus ihrem Widerwillen machte, so trat sie doch beiseite, um dem nächtlichen Besucher den Weg zum Wohnraum frei zu geben. Freundlich lächelnd schob er sich an ihr vorbei. Er schien nichts von der eisigen Stimmung zu bemerken. Oder er wollte es nicht.
    „Ich wollte nach dir sehen. Ist Ruben nun endlich zurück?“
    Miriam musste sich beherrschen um nicht die Geduld zu verlieren.
    „Nein. Gerade eben dachte ich noch, er sei endlich angekommen, aber stattdessen standest du vor der Tür.“ Kalt sah sie ihm in die Augen.
    „Oh, entschuldige“, sagte er. Aber der Ausdruck in seinem Gesicht blieb gleichmütig. „Hör mal, Miriam, er ist seit einer Woche weg. Es wird Zeit, sich mit der Zukunft zu befassen.“
    Die anfängliche Kälte wandelte sich langsam in Wärme. Doch mit wohlig hatte das wenig zu tun. Es sei denn, man fühlt sich in des Teufels Nähe geborgen. Miriam brannte vor Zorn.
    „Ja, ich weiss, du magst das nicht hören. Aber du brauchst jemanden, der dir den Hof macht. In jedem Sinn des Wortes. Du bist quasi Witwe. Den Hof kannst du nicht alleine bestellen. Die Tiere sind zusammen mit Ruben dem Untergang geweiht.“
    Jetzt konnte sie nicht mehr. Ihre Stimme war ruhig. Ruhig wie die Luft, bevor der Sturm losbricht. „Verschwinde.“
    Erstaunt sah der Besucher von seinem eingenommenen Sitzplatz in Miriams Schaukelstuhl auf. „Miriam, was…?“
    Sie liess ihn nicht aussprechen. „Raus aus meinem Haus.“ Gleich einem Vulkan kurz vor dem Ausbruch verlieh sie ihrer

Weitere Kostenlose Bücher