Unschuldslamm
Musste sie etwas sagen? Wann würde sie vereidigt werden? Sie hatte so viele Fragen, aber es schien ihr, als sei dafür nicht die Zeit. Diesen anderen Schöffen, Ernst Hochtobel, wollte sie um keinen Preis fragen, er war ihr unsympathisch mit seiner aufgeblasenen Wichtigtuerei.
Die Vorsitzende Richterin skizzierte also kurz den Fall und erklärte Ruth im Schnelldurchgang, dass sie lediglich auf Grund des im Gerichtssaal Gehörten und Gesehenen zu urteilen habe, und dann stand auch schon der Gerichtsdiener in der Tür, um die Richter in den Verhandlungssaal zu bitten.
Jetzt erst wurde Ruth wirklich bewusst, um was es ging. Das Schicksal eines Menschen wurde hier verhandelt. Der vielleicht einen Menschen zu Tode gebracht hatte – vielleicht aber auch nicht. Das Urteil, welches die drei Berufsrichter und die zwei ehrenamtlichen Richter, also Hochtobel und sie, am Ende der Verhandlung fällen würden, würde darüber entscheiden, ob ein junger Mann lebenslang ins Gefängnis musste. Ob der Mord an seiner Schwester damit gesühnt werden würde, stand auf einem anderen Blatt. Aber es kam darauf an, dass sie im Lauf dieser Verhandlungen – fünf Termine waren dafür angesetzt, erinnerte sich Ruth – konzentriert und sorgfältig wären. Sie alle fünf, die dazu aufgefordert waren, über einen Menschen zu richten.
Ruth erhob sich von ihrem Stuhl. Auch ihre Hände waren jetzt schweißnass, das Herz klopfte, und sie betrat mit gesenktem Blick den Saal in banger Erwartung dessen, was sie dort erleben würde.
B ERLIN- M OABIT, O LDENBURGER S TRASSE,
DER GLEICHE T AG, AM A BEND
Am nachhaltigsten waren ihr die Lichter in Erinnerung geblieben. Zwei Tage nachdem die Leiche von Derya gefunden worden war, hatte Ruth damals nach der Arbeit noch einen ausgedehnten Spaziergang zum Gymnasium ihrer Tochter gemacht. Schon von weitem, als sie über die Hansabrücke kam, hatte sie das Lichtermeer auf der Treppe vor dem Eingang erkennen können. Es schien, als hätte jeder Schüler mindestens eine Kerze aufgestellt, unzählige Lichter hatten in der Sommernacht geflackert, und Ruth hatte es bei ihrem Anblick die Tränen in die Augen getrieben. Obwohl Annika die junge Kurdin nicht näher gekannt hatte – diese war eine Jahrgangsstufe über ihr gewesen –, war sie doch vollkommen geschockt aus der Schule gekommen, als der Direktor allen Schülern verkündet hatte, was ihrer Mitschülerin zugestoßen war. Noch Wochen danach hatte Annika sich in der Dunkelheit kaum aus dem Haus getraut, die Mädchen waren immer zu zweit in Begleitung von befreundeten Jungs unterwegs gewesen. Als der Bruder, Aras, angeklagt wurde, hatte sich schnell Erleichterung breitgemacht, und Annika war ebenso wie alle anderen bereit gewesen, zu glauben, was die einschlägigen Blätter kolportiert hatten: dass es sich um einen »Ehrenmord« gehandelt hatte. Dass Derya sich Freiheiten herausgenommen hatte, die in den Augen ihrer Familie Schande gewesen waren. Dass sie einen deutschen Freund gehabt hatte, den der Bruder nicht billigen konnte. Man kannte diese Fälle, es war in Deutschland und gerade in Berlin schon vorgekommen, dass Familienangehörige ein junges Mädchen ums Leben gebracht hatten, weil sie einfach nur eines wollte: Freiheit.
Obwohl Annika und die Mehrzahl ihrer Mitschüler damals überrascht gewesen waren, dass es bei der Familie Demizgül offenbar ebenso rigide zugegangen war, hatte doch schnell die einhellige Meinung vorgeherrscht, dass die kurdische Familie nur nach außen Offenheit demonstriert hatte, tatsächlich aber in archaischen Traditionen verhaftet war. Und so war die Schulgemeinde nach ein paar hastig eingeschobenen Workshops und Thementagen zum Thema »Fremd sein in Deutschland« zur Tagesordnung übergegangen; lediglich eine kleine Gedenktafel im Foyer erinnerte an die tote Mitschülerin. Derya Demizgül war zu einem kurdischen Mädchen geworden, das einem wahrscheinlich religiös motivierten Verbrechen zum Opfer gefallen war.
Auch Ruth hatte seit Monaten nicht an das Verbrechen gedacht, zu Hause war es kein Thema mehr gewesen. Bis sie im Gerichtssaal Aras Demizgül gegenübergesessen hatte. Sie hatte die gesamten vier Stunden, die dieser erste Verhandlungstag gedauert hatte, den jungen Mann angesehen. Fassungslos. Sie hatte sich vorgestellt, wie er seine kleine Schwester mit dem Messer attackierte. Wie er versuchte, ihr die Kehle aufzuschlitzen, und mit ihr gekämpft hatte, als sie sich gewehrt hatte. Wie er ihren blutenden Leichnam
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