Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
es nicht genauso machen? Dort in Karlsruhe lernt er viele aufrichtig Begeisterte kennen. Vermutlich auch den jungen Ewald Frank, Flüchtling aus Danzig, der zum Übersetzer von William Branhams Reden und Schriften wird. Später wird Frank eine eigene Organisation gründen, die »Freie Volksmission e.V.« in Krefeld. Sie sieht sich in der Nachfolge von Branham und wächst auch im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts noch weiter. In den Augen von Ewald Frank war William Branham der größte Prophet des 20. Jahrhunderts. Selbst wenn das von Branham auf 1977 datierte Ende der Welt sich immer weiter verzögert. Wie Branham nimmt auch Frank die Bibel wörtlich und glaubt darüber hinaus – um nur eines der Dogmen zu nennen –, dass Abel von Eva und Adam gezeugt wurde, Kain aber von Eva und der Schlange. Daraus ergibt sich, dass Frauen bei Ewald Frank keine besondere Wertschätzung genießen.
Wunderheiler, Wanderprediger und Endzeitverkünder ziehen durch die Lande und missionieren. In den Fünfzigerjahren wird Paul Schäfer einer von ihnen.
Getreuer Hoffnung stilles Bild
Am 2. September 1955, nur zwei Wochen nach der Karlsruher »Erweckung« durch William Branham, zieht Paul Schäfer in Graz ein und verkündet, er habe die Botschaft empfangen, er solle nach Österreich gehen.
Schon wieder einer.
Zuerst besucht er Rosa Krieger, der er in Karlsruhe begegnet ist. Diese macht ihn mit der Schwester von Gudruns Vater bekannt, Tante Resi, und diese bringt Schäfer zu den Wagners, wo er Gudrun, ihre fünf Schwestern, ihre Eltern und schließlich auch ihren sechsjährigen Bruder Basti kennenlernt.
Tante Resi ist für Gudrun nicht nur eine liebe Tante, sondern »eine ganz wertvolle Person«. Gudrun respektiert sie undvertraut ihrem Urteil, sie ist überzeugt, Tante Resi irrt sich nicht und schaut immer ganz klar und nüchtern auf alles. Leider nicht auf alles und nicht immer. Eines Tages wird auch Tante Resi ihre Nichte Gudrun im Stich lassen.
Der erste Blick auf Paul Schäfer erschreckt Gudrun: ein kleiner Mann steht in der Tür, kaum größer als sie selbst, sein Blick ist beunruhigend. Ein Gedanke schießt ihr sofort durch den Kopf: kein Christ, eher ein Verbrecher. Sie schämt sich ihrer Gedanken und versucht, sie zu vergessen. Dass er ein Glasauge hat, weiß sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Später denkt sie: Was kann er dafür, dass ihm ein Auge fehlt?
In Graz übernachtet Schäfer bei einer kinderlosen reichen Witwe. Er mag es gern komfortabel, und bei den Wagners ist es doch recht eng mit den vielen Töchtern.
Schäfer wird begeistert aufgenommen. Er versteht sich darauf, Begeisterung zu entfachen und zu schüren und das Leben zu organisieren. »Jetzt hält Paul mal die Stunden«, hatten seine Getreuen schon in Groß Schwülper 1954 angeordnet. Nun auch in Graz. Locker liest Schäfer aus der Bibel vor, erzählt, was er sich dazu denkt, dramatisch spricht er davon, dass man den Teufel blamieren müsse, indem man seine Sünden beichtet. Nicht nur sündige Taten und Worte, sondern auch die Gedanken, damit die sich gar nicht erst im Kopf festsetzen können. Denn die bösen Gedanken kommen vom Teufel, und wenn man sie offen ausspricht, wird der Teufel blamiert und verliert damit seine Macht. Sagt Paul. Am besten beichtet man die Taten und Gedanken ihm, Paul. Alles, auch das Belangloseste. Noch besser, man schreibt die sündigen Gedanken auf. Und dann schreibt man sie noch einmal ab – einschließlich aller Korrekturvorschläge und Verbesserungen von Paul. Und dann unterschreibt man das Ergebnis und händigt es Paul aus, der es für einen verwahrt. Denn wo kann es sicherer verwahrt sein?
Und tatsächlich: Die Menschen reißen sich darum, bei Paul zu beichten und die versprochene Erleichterung zu spüren. Aber Paul nimmt nicht jeden. Gudrun zum Beispiel lehnt er ab – hat erihre spontane Abwehr bei der ersten Begegnung bemerkt? Doch Erleichterung verspüren längst nicht alle. Die meisten erleben sogar noch stärkere Schuldgefühle. Doch auch da weiß Paul Rat: Sie waren nicht gut genug in ihrer Beichte – nicht aufrichtig genug, nicht tief genug, nicht gläubig genug. »Dein Gebet ist leer«, sagt Paul, »du lügst, du stinkst.« So müssen sie sich noch mehr anstrengen, um zu den Auserwählten zu gehören. Und sie strengen sich noch mehr an, denn Schuld bindet. Erleichterung dagegen hätte befreit, und das ist nicht in Schäfers Interesse.
Zuerst sieht es aus wie ein Spiel: Schäfer leitet die Versammlungen
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