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Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte

Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte

Titel: Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Froehling
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dass eine relative Fremdheit erhalten bleibt. Nah, aber nicht zu nah. Jede Woche umziehen, ein Jahr lang, vermutlich sehr stressig für Alfred und Herbert. Nicht einmal diese beiden dürfen in der Fremde zusammenwohnen. Auch bei kürzeren Besuchen gilt diese Regel. Keine Bindung heißt das Motto. Keine, außer zu Paul.
Flirty Fishing
    Sechs junge Männer sind schon seit Jahren Paul Schäfers Begleiter. Mit ihrer virilen Ausstrahlung, mit viel Musik, Energie und frischem Wind steht ihm, Schäfer, ein erprobtes Mittel der Kundenwerbung zur Verfügung. Das Prinzip ist bekannt: verlockend und klebrig – der Fliegenfänger. »Flirty Fishing« nennt die »Kinder-Gottes-Sekte« 26 zwei Jahrzehnte später sehr viel direkter die religiös begründete Prostitution, mit der weibliche Mitglieder aufMitgliederfang gehen. Doch während diese genau wissen, was ihre Aufgabe ist, hat sich Alfred vermutlich wirklich in Gudrun verliebt. Das kann nicht schwer gewesen sein, auf den Bildern ist sie ein entzückendes junges Mädchen, eigentlich ein Kind, neugierig auf die Welt. Und Alfred marschiert stramm auf den Höchststand männlichen Testosteronspiegels zu. Zwischen Arbeit, Seelsorge, Gottesdienst, Gesang, wöchentlichem Wohnungswechsel und erotisch aufgeheizten Begegnungen bleibt ihm sicher keine Zeit, um vertieft über Paul Schäfers Strategien der Manipulation nachzudenken.
    Nicht nur Gudrun und ihrer Familie gefällt Schäfers scheinbar freiere Art: Gleich dreißig Mitglieder der Grazer Pfingstgemeinde laufen über zu Schäfers noch namenloser Privatsekte. Ein Eklat: Für diesen Bruch muss sich Gudruns Vater vor den Ältesten aller Pfingstgemeinden in Österreich verantworten und wird aus dem Bund der Pfingstgemeinden ausgeschlossen. Er steht es durch und hält weiter treu zu Schäfer. Mehr noch: Auf einige wirkt Wilhelm Wagner schon jetzt abhängig – Schäfer befiehlt, Wagner folgt. Welche Macht hat der arbeitslose Junggeselle Paul Schäfer über Wilhelm Wagner? Wagner ist ein gläubiger Mann, fest in Familientraditionen eingebunden. Als angestellter Gärtner ernährt er eine neunköpfige Familie und hat es in kurzer Zeit geschafft, auf eigenem Grund und Boden für seine Familie ein Haus zu bauen. Aber den Zehnten aufzubringen, den er Schäfer zahlt, fällt Wilhelm Wagner sehr schwer. Mit seinem Lohn als Gärtner seine Familie zu ernähren, zu kleiden, ihnen ein Haus zu bauen, ist ohnehin eine gewaltige Leistung. Wenn Gudrun nachts nicht schlafen kann, schleicht sie manchmal leise die Treppe hinunter in die Küche und hockt sich zu ihrem Vater, der am Küchentisch sitzt und rechnet. Seine Sorgen kann sie spüren.
    Es gibt ein Foto aus dieser Zeit von der Familie Wagner. Der Wagner-Chor, stolz aufgereiht vor dem eigenen Haus am Stadtrand von Graz.
    Die Haare aus dem Gesicht gekämmt, die Augen unter der hohen Stirn ein wenig zusammengekniffen gegen die Sonne, soschauen die sechs Mädchen und jungen Frauen in die Kamera. Unverkennbar eine Familie. Manche lächeln, die Mutter blickt ernst. Sorgfältig aufgebaut vom Fotografen, wie man das eben so macht in den Fünfzigerjahren: vorne in der Mitte Vater und Mutter sitzend, er im Anzug, mit Schlips und Kragen, sie sittsam die Hände im Schoß, der dunkle Rock bedeckt die Knie, die Füße im festen Schuhwerk stehen akkurat nebeneinander. Zwischen den Eltern die Jüngste, ein wenig an den Vater gelehnt, drei Jahre ist die Kleine, blond wie die meisten von ihnen, in der Hand hält sie ein Spielzeug. Dahinter Gudrun in ihrem weißen Sommerkleid mit den schwarzen Tupfen und dem weiten Rock, dem Geschenk einer Tante. Eine der Schwestern am rechten Bildrand trägt auffällige Schuhe. Männerschuhe, viel zu groß. Die Wagners sind arme Leute. Links außen der einzige Junge, sieben Jahre, der Stammhalter in ledernen Kniebundhosen, eine Hand in der Tasche. Ein wenig abseits steht er da, einerseits locker, andererseits wirkt er fast schutzlos. Oder macht ihm nur der strahlende Sonnenschein zu schaffen?
    Ein altes Schwarz-Weiß-Foto, Momentaufnahme von dargestelltem Glück. Vielleicht war es so. Über fünfzig Jahre sind vergangen; manches, was seither geschah, meint man als Schatten schon im Bild zu entdecken. Doch der Blick aus einer späteren Zeit verändert das Bild.
    *
    In den zwei Jahren nach William Branhams Karlsruher Massenveranstaltung besucht Paul Schäfer viele der Gläubigen, denen er dort begegnet ist, und andere, von denen er gehört hat. Er hat sich jetzt auf freikirchliche

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