Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
mit leichter Hand, gestaltet das Singen, das Toben und das Spielen. Für diese Seite von Paul Schäfer ist Gudrun heute noch dankbar. »Man konnte richtig mal rauskommen aus sich, nicht so eingeengt sein, sondern im Wald rumtoben, auch Kibbel-Kabbel und andere Spiele spielen. Bei uns auf dem Hof, im großen Garten waren Möglichkeiten genug zum Spielen. Der Wald war so nah.«
Und sie sind oft im Wald.
So verwischt sich schnell das Bild, dieser Schock, als sie Schäfer zum ersten Mal gesehen hatte und dachte: kein Christ, eher ein Verbrecher. Doch wieder ist einer da, der sich nicht beirren lässt: der alte Großvater. »Lasst euch nicht mit diesem Mann ein«, warnt er seinen Schwiegersohn, »das ist ein Antichrist.« Dabei hatte er Paul Schäfer noch nicht einmal angeschaut, sondern nur von ihm gehört. Doch mit diesen Worten kann die dreizehnjährige Gudrun nichts anfangen, kann sich gar nichts darunter vorstellen. Aber sie behält sie im Gedächtnis. Auch die Mutter ist vorsichtig. Warum der Vater nicht auf den Großvater hört? Wer weiß? Warum sie selbst es nicht tut, das weiß Gudrun genau: Im Tross von Paul Schäfer ist auch Alfred Matthusen in Graz aufgetaucht. Und in ihn hat Gudrun sich verliebt.
Nach den fröhlichen Tagen im September 1955 verschwindet der Trupp mit seinem braunen VW Bulli T1, das Leben wird wieder gleichförmiger. Im Dezember kehrt Schäfer – für Gudrun überraschend – zurück, bringt Herbert Münch und Alfred Matthusen mit. Welch schöneres Weihnachtsgeschenk könnte es geben? Inzwischen ist Gudrun vierzehn.
Ein vierzehnjähriges Mädchen und ein neunzehnjähriger Mann. Sie tauschen Zärtlichkeiten aus. So nannte man das früher. Aber es ist etwas Merkwürdiges um Gudruns Erinnerungen. Oft erinnert sie sich nur bis zu einer Grenze, und dann scheint sie einzuschlafen. An das Erwachen erinnert sie sich dann wieder. Dieses Phänomen gab es schon früher in ihrem Leben. Es wird in den folgenden Jahrzehnten immer wieder auftauchen.
Doch nun ist erst einmal Weihnachten. Paul Schäfer und sein kleiner Trupp feiern zusammen mit den Wagners und der Grazer Pfingstgemeinde. Der bisherige Prediger macht gute Miene zu Schäfers Spiel, es geht ja auch um seinen Posten.
Man kann es sich inzwischen leisten, einen Saal zu mieten, die Mitgliederzahl wächst, fünfzig bis achtzig Personen sind meist anwesend. Für seine Tätigkeit wird der Prediger mit einer freiwilligen Zahlung von jedem Mitglied entlohnt. Diese Zahlung orientiert sich in evangelisch-fundamentalistischen Gemeinschaften wie den Pfingstkirchen und den Freikirchen meist am biblischen »Zehnten«, also zehn Prozent vom Bruttoeinkommen. 25
Alles ist wieder so locker wie beim ersten Treffen. Schäfer – zwei junge Männer an seiner Seite – betritt den Saal, schlägt die Bibel scheinbar zufällig an irgendeiner Stelle auf und erzählt, was ihm dazu einfällt. Dann reicht er die Bibel weiter, andere lesen vor, man spielt Gitarre, lernt das Lied »Am Weihnachtsbaume die Lichter brennen«, das Gudrun noch nicht kennt.
Am Weihnachtsbaume die Lichter brennen,
wie glänzt er festlich, lieb und mild,
als spräch er: Wollt ihr in mir erkennen
getreuer Hoffnung stilles Bild.
Gudrun singt begeistert mit. Ein neues Lied, ganz anders als die Kirchenlieder, die sie sonst singen. Schäfer kümmert sich intensiv um die Jugend, bietet viel Abwechslung, lockt mit Schlittenfahrten, mit Spielen. Jungen und Mädchen zusammen, durcheinander, er scheint keinen Unterschied zu machen. Für Gudrun hat dieses Lockere, Ungezwungene einen großen Reiz.
Dann ist Schäfer wieder verschwunden und mit ihm Alfred. In Graz geht der Alltag für die Familie Wagner weiter. Erst im August 1956 sieht sie Alfred wieder. Nach der Zeltfreizeit in Groß Schwülper bleiben Alfred Matthusen und Herbert Münch, von Schäfer abkommandiert, ein ganzes Jahr in Graz. Alfred arbeitet als Bäcker, Herbert als Autoschlosser. Abwechselnd wohnt jeder eine Woche lang bei der Familie Wagner, dann eine Woche bei der Familie Wöhri und betreut die beiden Familien seelsorgerisch gegen Kost und Logis. Gehalt und Berichterstattung aber gehen direkt an Schäfer, denn Alfred und Herbert sind »Kreuzler«, die ein Jahr lang das Kreuz der unentgeltlichen Arbeit auf sich nehmen, damit Schäfers Traum Wirklichkeit wird: ein Heim, wo seine Regeln gelten.
Eine geschickte Strategie von Schäfer: Kontakt halten, Überblick bewahren, aber verhindern, dass Beständigkeit aufkommt, dafür sorgen,
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