Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
Jahre alt war, denkt er, damit es keinen Streit gab. Die Mutter macht gerade Urlaub mit einer Nachbarin, Arbeiterin in der Puddingfabrik wie sie, die hat sie mitgenommen zu einer Zeltfreizeit in Groß Schwülper. Da ist was los! Ein Paul Schäfer soll dort die Bibel auslegen und Erwachsene taufen. Ein faszinierender Mann, sagen sie, ein Gottesmann, einer, der etwas bewegen will. Einer, durch den Gott spricht. Das klingt gut, auch für Wolfgangs Mutter, die eher auf der Suche nach Unterhaltung ist, nach Ablenkung vom Alltag, als nach religiöser Einkehr.
Wolfgangs Eltern haben im letzten Kriegsjahr geheiratet, ihr Unglück dadurch eher verdoppelt als halbiert. Zügig, im Jahr darauf, kam Wolfgang zur Welt. Kindererziehung entfällt aus Mangel an Zeit und Neigung. Wolfgang wächst bei den Großeltern auf und in den Familien der Nachbarskinder; Cousins und Cousinen sind auch dabei. Fußballspielen, Kinderstreiche und Kirschenklauen sind die Lichtblicke in seiner Erinnerung.
Auf der Suche
Groß Schwülper, eine kleine ländliche Gemeinde zwischen Harz und Heide im Zonenrandgebiet, nahe der Ostzone, ist in Aufruhr an diesem Wochenende im Sommer 1956. Auf den Wiesen am Ufer der Oker, die hier nur wenige Meter breit ist, zwischen Pferdeweiden, Rüben- und Kartoffeläckern macht sich eine Zeltstadt breit. Kleine Schlafzelte für drei bis fünf Personen, ein großes Zelt für gemeinsame Mahlzeiten, ein Versammlungszelt für Gebete, Predigten, Evangelisation. Und das Wasser im Staugraben der Schunter, einem kleinen Nebenfluss der Oker, um die Bekehrten darin zu taufen.
Menschen auf der Suche sind hier zusammengekommen. Suche nach Gott, nach Gemeinschaft, nach Halt. Es sind Christen, meist Freikirchler, Baptisten, Pfingstler und andere, denen die evangelische Kirche zu wenig Kraft, Erleuchtung, Leidenschaft, zu wenig Erschütterung und Führung bietet. Das Bedürfnis, sich bedingungslos hinzugeben – diesmal einem Führer, der es gut mit ihnen meint –, das verbindet sie. Viele Kinder sind dabei. Vielleicht kann man noch ein bisschen Fußball spielen, denkt Wolfgang und schaut sich um, als sein Vater den VW Käfer am Feldrain geparkt hat und sie beide am Kühler lehnen, vor sich viele unbekannte Menschen, und die Mutter ist nirgends zu sehen.
Fünfzig, vielleicht achtzig Menschen bevölkern heute die Okerwiesen, Mädchen in bunten Sommerkleidern oder in Rock und weißer Bluse, die meisten tragen lange Zöpfe, Frauen in weiten Röcken und flachen Schuhen, mit Dutt, Knoten oder Haarkranz, erwartungsvoll. Viele haben eine Strickjacke übergezogen, denn dieser August 1956 ist viel zu kalt für einen Sommermonat. Stumm stehen die Frauen beieinander, schauen zu, wie diehalbwüchsigen Jungen spielen. Viele ältere Männer in kariertem Hemd mit Strickweste, dünn sind sie und müde vom Krieg, der vor zehn Jahren zu Ende ging, der ihnen aber immer noch in den Knochen steckt. Und in der Seele.
Millionen Flüchtlinge aus Osteuropa mussten untergebracht werden, eher geduldet als mit offenen Armen aufgenommen, so erleben sie ihr Schicksal. Herumgestoßen, verachtet. Freikirchler aus Ostpreußen, aus Schlesien sind nach der Flucht hier in Groß Schwülper gelandet, gestrandet und müssen sich für ihre Gottesdienste die kleine Kapelle mit einer anderen Minderheit teilen, katholischen Flüchtlingen aus dem früheren Galizien, eine Region, die sich heute vom südlichen Polen bis in die Ukraine erstreckt.
Wolfgangs Familie musste nicht flüchten, sie lebte immer in Lutter. Aber auch durch die Straßen seiner Kindheit ziehen die Kriegsversehrten, Einbeinige mit Krücken, das leere Hosenbein mit Sicherheitsnadeln hochgesteckt. Die Kinder laufen zusammen, wenn wieder ein Leierkastenmann in ihrer Straße auftaucht, einer hat einen angeketteten Affen dabei, der sammelt mit einem Hut die Pfennige und Groschen auf, die die Kinder ihm hinwerfen. Doch Wolfgang hat kein Geld zum Wegwerfen.
Für die Jugendlichen und die Erwachsenen erwacht nachts im Traum der Schrecken des Krieges wieder zum Leben, mit Brandbomben, Vergewaltigungen, Gefangenschaft. Auch die Qual der anderen: das Leid der Zwangsarbeiter, die Folter, die Demütigungen und Massenmorde in den Konzentrationslagern.
Überall in Deutschland sind die Folgen von Diktatur und Krieg noch zu spüren. Nicht mehr so deutlich wie 1945 – die Ruinen sind aus dem Wege geräumt, die Wirtschaft blüht auf, die Menschen wollen leben, kaufen, haben. Der Aufbau nimmt alle Kräfte in Anspruch.
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