Unsere schoenen neuen Kleider
– die Reihe der Namen ist lang und beachtlich – machten damals auf Kosten der Ostdeutschen, letztlich aber auf Kosten der gesamten Bevölkerung, Milliardengeschäfte. Die Ostdeutschen sahen keinen Pfennig von ihrem Volksvermögen. Zurück blieb eine zu siebzig bis achtzig Prozent deindustrialisierte Region. An der Rechnung dafür zahlen wir noch heute.
Statt einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten gab es einen Beitritt des Ostens zum Westen. Das hieß: Vergesst alles, was war, lernt alles, was ist.
Trotzdem: Die Hoffnung auf eine bessere Welt war groß und berechtigt. Durch das Ende der Blockkonfrontation, durch das Ende des Kalten Krieges und des Wettrüstens, wäre nun Geld und Kraft für die eigentlichen Probleme dieser Welt da, für sauberes Wasser, für die Bekämpfung von Hunger und Krankheiten und Umweltzerstörung, endlich gäbe es keine Stellvertreterkriege mehr, allmählich würden sich Wohlstand und Bildung in der Welt ausbreiten. Was sollte dem jetzt noch entgegenstehen? Und war das nicht mehr als eine Hoffnung? War das nicht geradezu notwendig? Oder war ich einem Selbstbetrug aufgesessen?
Mit Selbstbetrug hat auch Andersens Märchen zu tun.
Der Kaiser, der sich weder um die Soldaten noch um das Theater oder die Regierungsgeschäfte kümmert, umso mehr aber um seine Garderobe, steht dem Wohlergehen der Stadt zumindest nicht im Wege. Denn dort, wie wir hören, geht es munter zu, und jeden Tag kommen viele Fremde. Unter diesen sind, wie könnte es auch anders sein, zwei Betrüger. Mit ihnen beginnt die eigentliche Geschichte.
Andersen weist den beiden eine klare Rolle zu: Sie betrügen vorsätzlich. Über ihre Gründe erfahren wir nichts. Vielleicht wollen sie einfach Knete machen, und zwar so viel, wie sie mit normaler Arbeit, mit dem Weben von Stoffen und der Anfertigung von Kleidern, nie verdienen würden. Vielleicht erlauben sie sich nur einen Spaß. Als Leser wünscht man sie nicht an den Galgen. Es sind gewitzte Typen, die Kaiser, Hofstaat und Volk genau studiert haben. Ihr Wissen ist ihr Kapital, damit spekulieren sie auf die Schwächen der Gesellschaft.
Andersen macht die Leser von Anfang an zu Komplizen. Als Leser geraten wir nie in Versuchung, uns zu fragen, ob die Betrüger auch wirklich Betrüger sind, und so können wir das, was geschieht – wie sonst nur die Betrüger selbst –, als Schauspiel genießen. Zudem dürfen wir uns in die Brust werfen und behaupten, mir wäre das nie passiert, ich wäre nie darauf reingefallen.
Dass die beiden sofort Gehör beim Kaiser finden, verwundert nicht. Denn nichts interessiert diesen so sehr wie neue Kleider.
Würden sie allerdings nur vorgeben, die unglaublichsten Stoffe weben zu können, wäre ihre Performance von kurzer Dauer. Sie erfinden für ihr Produkt eine Erzählung, sie verpassen ihren Kleidern ein Image, das etwas noch nie Dagewesenes verheißt. Was sie versprechen, gab es tatsächlich noch nie und kann es eigentlich auch nicht geben. Selbst ein Kaiser im Märchen könnte und sollte sich darüber wundern. Jene Kleider sind nicht nur besonders schön, sondern sie besitzen die wunderbare Eigenschaft, für jeden Menschen unsichtbar zu sein, der nicht »für sein Amt taugt« oder der »unverzeihlich dumm« ist.
Diese Erfindung ist raffiniert, ja sie ist geradezu genial zu nennen. Akzeptiert man dieses Versprechen, dann weiß man fortan mit Sicherheit, welcher Mensch etwas taugt und welcher nicht. Hat man dieses Versprechen erst einmal verinnerlicht, ist es nicht mehr wichtig, die Welt zu betrachten. Es geht nur noch darum, den Beobachter der Welt zu beobachten und zu bewerten. Was der Beobachter auch sagt, sagt unter diesen Voraussetzungen nichts mehr über die Wirklichkeit aus – in diesem Fall die Kleider –, sondern nur noch über den Beobachter selbst. Wenn ich also nicht erkennen kann, dass unsere Gesellschaft sozial und gerecht ist, werde ich nicht nach meinen Beobachtungen und Argumenten gefragt, dann wird nicht darüber diskutiert, warum ich unsere Gesellschaft nicht sozial und gerecht finde, denn ich habe mich ja bereits selbst entlarvt. Kann ich nämlich nicht erkennen, dass unsere Welt sozial und gerecht ist, dann liegt das nicht an der Welt, sondern an mir. Gefragt wurde ich nur, weil man wissen wollte, was ich für einer sei. Dass die Kleider unvergleichlich schön sind und diese entlarvenden Eigenschaften besitzen, stand ja bereits fest. Und nun wissen alle, dass ich zu keinem Amt tauge, unverzeihlich dumm bin
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