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Unsichtbar

Unsichtbar

Titel: Unsichtbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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wenn die andere Hälfte in der Lage ist, die erste Hälfte zu vernichten, wird keine der beiden Seiten den Abzug betätigen. Ein permanentes Patt. Die eleganteste Antwort auf militärische Aggression in der Geschichte der Menschheit.
    Ich unterbrach ihn nicht. R. B. redete ausnahmsweise einmal vernünftig, auch wenn seine Argumentation ziemlich simpel war. Und was ist mit Algerien und Indochina, hätte ich ihn am liebsten gefragt, was ist mit Korea und Vietnam, was ist mit der Einmischung der USA in Lateinamerika, mit der Ermordung von Lumumba und Allende, mit den sowjetischen Panzern in Budapest und Prag, mit dem langwierigen Krieg in Afghanistan? Es hatte wenig Sinn, diese Fragen zu stellen. Ich hatte in meiner Jugend so viele Vorträge dieser Art über mich ergehen lassen, dass ich wusste, es war nicht der Mühe wert, mich deswegen mit R. B. in die Haare zu kriegen. Lass ihn schwafeln, sagte ich mir, lass ihn seine holzschnittartigen Ansichten ausbreiten, bald geht ihm ohnehin der Stoff aus, und dann ist der Abend vorbei. Das war der R. B. von früher, und zum ersten Mal, seit ich sein Haus betreten hatte, fühlte ich mich auf vertrautem Terrain.
    Aber ihm ging nicht der Stoff aus, und der Abend zog sich viel länger hin, als ich gedacht hatte. Mit den Bemerkungen zum Kalten Krieg hatte er sich nur aufgewärmt, gewissermaßen seine Zunge gelockert, und dann hielt er mir eine zweistündige Predigt mit einer solchen Hitze, wie ich es noch nie von ihm gehört hatte. Der Terrorismus der Araber, der 11. September, der ausufernde Krieg im Irak, der Ölpreis, die globale Erwärmung, Nahrungsknappheit, die Massen hungernder Menschen, eine neue Weltwirtschaftskrise, schmutzige Bomben, Anthraxattacken, die Auslöschung Israels - welches Thema brachte er nicht zur Sprache, welche entsetzliche, todesröchelnde Prophezeiung spie er mir nicht ins Gesicht? Einiges von dem, was er sagte, war so hässlich und gemein, so boshaft in seinem Hass auf jeden, der kein Europäer mit weißer Haut war, auf jeden, der, darauf lief es hinaus, nicht Rudolf Born war, dass schließlich ein Augenblick kam, wo ich es nicht mehr ertragen konnte, ihm weiter zuzuhören. Schluss, sagte ich. Ich will kein Wort mehr hören. Ich gehe ins Bett.
    Als ich mich von meinem Stuhl erhob und aus dem Zimmer ging, redete er immer noch, hatte überhaupt nicht bemerkt, dass ich nicht mehr mit ihm am Tisch saß, und predigte mit seiner betrunkenen, schnarrenden Stimme weiter. Die Eiskappen an den Polen schmelzen, sagte er. Noch fünfzehn Jahre, noch zwanzig Jahre, dann kommt die Flut. Städte versinken, Kontinente verschwinden, alles geht zugrunde. Da wirst du noch am Leben sein, Cecile. Du wirst es mit eigenen Augen sehen, und dann wirst du ertrinken. Ertrinken mit allen anderen, mit den Milliarden anderen, und das ist das Ende. Wie ich dich beneide, Cecile. Du wirst dabei sein und das Ende von allem miterleben.
    Am nächsten Morgen (gestern) erschien er nicht zum Frühstück. Als ich Nancy fragte, ob mit ihm alles in Ordnung sei, kam ein kleines Geräusch aus ihrem Kehlkopf, etwas wie ein gedämpftes, nach innen gerichtetes Lachen, und dann sagte sie, Mr. Born befinde sich noch im Traumland. Ich fragte mich, wie lange er noch getrunken haben mochte, nachdem ich das Esszimmer verlassen hatte.
    Vier Stunden später, rechtzeitig zum Mittagessen, tauchte er auf, offensichtlich bester Laune, die Augen munter und konzentriert, klar zum Gefecht. Zum ersten Mal, seit ich dort war, hatte er sich die Mühe gemacht, ein Hemd anzuziehen.
    - Entschuldige meine unbeherrschten Reden gestern Abend, fing er an. Nicht die Hälfte davon habe ich ernst gemeint - weniger als die Hälfte, genau genommen so gut wie nichts.
Wie kommst du dazu, Dinge zu sagen, die du nicht ernst meinst?, fragte ich, ein wenig verwirrt von diesem seltsamen Rückzieher. Es sah ihm nicht ähnlich, sein eigenes Verhalten zu überdenken und etwas, das er gesagt oder getan hatte - unbeherrscht oder nicht-, einfach so zurückzunehmen.
Ich habe verschiedene Ideen durchprobiert, habe versucht, mich in die richtige Geistesverfassung für die vor mir liegende Arbeit zu versetzen.
Und was für eine Arbeit ist das?
    - Das Buch. Das Buch, das wir zusammen schreiben werden. Seit unserem Gespräch gestern Vormittag bin ich überzeugt davon, dass du recht hast, Cecile. Die wahre Geschichte kann nicht veröffentlich werden. Zu viele Geheimnisse, zu viele schmutzige Machenschaften wären zu enthüllen, zu viele Todesfälle

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