Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unsichtbar

Unsichtbar

Titel: Unsichtbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
Mr. Ys Wagen. Als er am nächsten Morgen ins Dorf fährt, um Brot zu kaufen, verliert Mr. Y die Kontrolle über sein Auto und stürzt einen Abhang hinunter. Auftrag ausgeführt.
Was willst du damit sagen, Rudolf?
Nichts. Ich erzähle dir eine Geschichte, sonst nichts. Ich schildere, wie Mr. X Mr. Y tötet.
Du redest von meinem Vater, stimmt das?
Aber nein. Wie kommst du darauf?
Du erzählst mir, wie du versucht hast, meinen Vater umzubringen.
Unsinn. Dein Vater hat nie für den Geheimdienst gearbeitet. Das weißt du. Er war beim Kulturministerium.
Das behauptest du. Wer weiß, was er wirklich getan hat?
Lass das, Cecile. Wir machen doch nur ein bisschen Spaß.
Das ist nicht komisch. Das ist ganz und gar nicht komisch. Wenn ich dich höre, wird mir schlecht.
Meine liebe Kleine. Beruhige dich. Du benimmst dich recht einfältig.
Ich gehe jetzt, Rudolf. Ich kann es keine Minute länger mit dir aushalten.
    -Jetzt gleich, mitten beim Essen? Einfach so? - Ja, einfach so.
Und ich dachte -
Ist mir egal, was du dachtest.
Na schön. Geh, wenn du gehen willst. Ich werde nicht versuchen, dich aufzuhalten. Seit du hier bist, habe ich nichts anderes getan, als dich mit Freundlichkeit und Zuneigung zu überschütten, und jetzt wendest du dich so gegen mich. Du bist eine lächerliche, hysterische Frau, Cecile. Es tut mir leid, dass ich dich in mein Haus eingeladen habe.
Mir tut es leid, dass ich gekommen bin.
    Inzwischen stand ich schon, war schon auf dem Weg zur Tür, weinte schon. Bevor ich auf den Flur trat, drehte ich mich noch einmal um, um einen letzten Blick, auf den Mann zu werfen, den meine Mutter beinahe geheiratet hatte, den Mann, der mich gebeten hatte, seine Frau zu werden, und da saß er mit dem Rücken zu mir über seinen Teller gebeugt und schaufelte sich das Essen in den Mund. Absolute Gleichgültigkeit. Ich hatte das Haus noch nicht verlassen, und schon war ich aus seinen Gedanken gelöscht.
    Ich ging in mein Zimmer, um meine Sachen einzusammeln. Diesmal würde Samuel mich nicht begleiten, und da ich es mit dem Gepäck in der Hand nicht den Berg hinunter schaffen würde, musste es dableiben. Ich packte saubere Unterwäsche in meine Handtasche, kickte meine Sandalen weg und stieg in ein Paar Turnschuhe, dann vergewisserte ich mich, dass mein Pass und mein Geld dort waren, wo sie hingehörten. Die Vorstellung, meine Kleider und Bücher zurückzulassen, gab mir einen kleinen Stich, aber das Gefühl verflog auch gleich wieder. Ich hatte vor, nach Saint Margaret zu gehen und mir ein Ticket für den nächsten Flug nach Barbados zu besorgen. Achtzehn Kilometer zu Fuß. Das konnte ich schaffen. Solange ich festen Boden unter den Füßen hatte, konnte ich ewig marschieren.
    Der Weg den Berg hinunter erwies sich als nicht so kräftezehrend wie der Weg hinauf. Natürlich brach ich in Schweiß aus, und wieder kamen die lästigen Luftangriffe der Mücken und Moskitos, aber diesmal stürzte ich nicht, kein einziges Mal. Ich schlug ein moderates Tempo ein, weder zu langsam noch zu hastig, und machte ab und zu Pause, um Pflanzen am Wegrand zu betrachten - bunte, wunderschöne Gewächse, deren Namen ich nicht kannte. Flammend rot. Flammend gelb. Flammend blau.
    Als ich mich dem Fuß des Berges näherte, drang mir ein Geräusch ins Ohr, eine Ansammlung von Geräuschen, die ich nicht identifizieren konnte. Anfangs schien es mir dem Zirpen von Grillen oder Zikaden zu ähneln, dem unaufhörlichen metallischen Gesumm von Insekten in der Hitze des Nachmittags. Aber bei dieser Hitze mochten nicht einmal Insekten einander etwas zurufen, und als ich näher kam, waren diese Geräusche auch viel zu laut, waren die Rhythmen dieser Geräusche viel zu komplex, zu pulsierend und verschachtelt, als dass sie von irgendwelchen Lebewesen herrühren konnten. Eine Wand aus Bäumen versperrte mir die Sicht. Ich ging weiter, aber die Bäume traten erst zurück, als ich ganz unten ankam. Dort blieb ich stehen und wandte mich nach rechts, und endlich sah ich, woher die Geräusche kamen, endlich sah ich, was meine Ohren mir erzählt hatten.
    Eine öde Fläche breitete sich vor mir aus, eine öde, staubige, mit grauen Steinen verschiedener Größe und Form übersäte Fläche, und zwischen den Steinen verteilt hockten fünfzig, sechzig Männer und Frauen; alle mit einem Hammer in einer Hand und einem Meißel in der anderen, klopften sie die Steine, bis sie zerbrachen, klopften dann die kleineren Steine, bis sie zerbrachen, und klopften dann die kleinsten

Weitere Kostenlose Bücher