Unsichtbare Blicke
durfte nicht scheitern. Ich machte mir keine Gedanken darüber, was passieren würde, wenn ich scheiterte, oder zumindest konnte ich sie immer wieder schnell verdrängen. Ich wusste, dass es meine einzige Chance war. Wenn er zurückkam, würde ich weg sein.
Die erste Hürde hatte ich schnell genommen. Der Wasserkran hatte bald den Geist aufgegeben und sich aus der Halterung in der Wand gelöst. Die Mauern bestanden unter einer Schicht, die ich anfangs für Beton gehalten hatte, aus Ziegelsteinen. Irgendwann lockerte sich der Stutzen des Hahns. Der Spielraum reichte, um ihn durch stetiges Hin- und Herdrücken zu biegen, bis das Metall nachgab und brach.
Es war kein besonders festes Material, einen Moment befürchtete ich, es würde sich zu schnell abnützen, vielleicht war es Blei oder Kupfer. Für meine Zwecke musste es ausreichen. Ich wollte mich schließlich nicht durch die Mauern buddeln.
Der Raum war nicht sehr hoch. Zum Glück passten die beiden Möbelstücke gerade eben übereinander. Wenn ich nicht zu sehr ruckelte und die dünnen Beine des Nachttischs dadurch verschob, hatte ich einen sicheren Stand und musste mich nicht allzu sehr strecken, um das Gitter des Belüftungsschachts zu erreichen.
Am schwierigsten war es, in der Dunkelheit das Gleichgewicht zu halten. Mich plagte keinerlei Höhenangst, wie Sarah, die kaum eine Fußgängerbrücke überqueren konnte. Im Dunkeln veränderte sich die Welt jedoch komplett. Ich musste mich darauf konzentrieren, wo unten und wo oben war, eigentlich die einfachste Sache der Welt – im Alltag.
Mein erster Versuch scheiterte. Ich klemmte mein Werkzeug – es hatte kaum die Länge meines halben Unterarms – zwischen die Öffnungsritzen der Abdeckung des Lüftungsschachts. Schon beim kleinsten Druck wackelte unter mir der Turm, der ehemalige Kran verbog sich, bei dem Gitter tat sich nichts. Es wäre auch zu schön gewesen.
Also begann ich, entlang der Kanten den Putz wegzukratzen. Mit stetigem und leichtem Druck anfangs, als ich merkte, dass ich tatsächlich einen schmalen Streifen freilegen konnte, mit etwas mehr Kraft; Farbe, Mörtelstaub, ab und zu auch ein paar gröbere Stückchen lösten sich.
Meine Augen tränten, nach kurzer Zeit konnte ich sie nicht mehr offen halten, so sehr brannten meine Lider. Die Schleimhäute in der Nase, mein Mund – alles bedeckte dieser trockene, knirschende Belag. Ich musste hinuntersteigen. Idiotin, beschimpfte ich mich, warum schließt du die Augen nicht, es ist stockdüster, und du starrst in den dreckigen Nebel, der auf dich rieselt. Mit geschlossenen Augen war das Gleichgewicht jedoch noch schwerer zu halten, Dunkelheit hin oder her.
Ich spülte die Augen mit einer halben Flasche Wasser aus. Gut, dass er nicht auf die Idee gekommen war, mir Limonade oder Saft dazulassen. Ich trank ein paar Schlucke, zerriss ein T-Shirt und band die eine Hälfte um Mund und Nase, aus der anderen machte ich eine Augenbinde.
Mein Zeitgefühl hatte sich völlig verflüchtigt. Ich war ohne die geringste Ahnung, wie lange ich danach wieder mit meiner Arbeit unter der Decke verbrachte.
Nicht denken, sagte ich mir immer wieder, nicht denken, keine Fragen stellen. Einfach kratzen, kratzen, kratzen und nicht mit den Fingern herumtasten, sind es zwei Millimeter, gibt die Schicht unter dem Putz nach, ja oder nein, bildest du es dir ein, ist es völlig bescheuert, was du da tust? Nicht denken, Josie, nicht denken. Du musst raus, wenn er zurückkommt und du nicht raus bist, kettet er dich womöglich an, fesselt dich, kratz weiter, Josie!
Ich versuchte, meine Gedanken auf schöne Dinge zu lenken, Felix, unsere Stunden im Spreewald, die so berauschend gewesen waren und doch zu diesem Kater geführt hatten, zu dem Schlamassel, in dem ich jetzt steckte. Es ging nicht. Die Erinnerungen quälten mich.
Ich konnte nicht fliehen, nicht in Vorstellungen, Phantasien, Träume. Ich musste mich befreien. Mach es dir nicht gemütlich hier, Josie!
Der Gedanke brachte mich zum Lachen. Gemütlich. Auf einer wackeligen Konstruktion, Dreck in allen Öffnungen deines Kopfes, brennende Arme. Gemütlich machen, nein, hier gab es sicher keine Gemütlichkeit.
Anfangs schmerzten die Arme, die Hände, jede Faser meiner Muskeln jaulte. Durch die Haltung der Hände über meinem Kopf funktionierte die Durchblutung nicht mehr so gut, und es schien, als träte dadurch eine wohltuende Gefühllosigkeit ein. Sobald ich die Arme sinken ließ und ausschüttelte, schossen heiße
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