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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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Blitze durch die Nerven, an den Fingerspitzen fühlte es sich an, als fasste ich auf eine Herdplatte.
    Noch bevor die Zeitschaltuhr mir Licht und damit einen Blick auf meine Arbeit schenkte, überwältigte mich eine totale Erschöpfung. Er hatte den Tag und die Nacht in ungefähr gleiche Hälften geteilt, ich konnte nicht durchmachen. Mir wurde bei diesem Gedanken klar, welche Macht er sich nahm.
    Den Tag und die Nacht nach eigenem Gutdünken bestimmen. Mit einer Zeitschaltuhr, die man in jedem Baumarkt kaufen konnte. Der Gott aus dem Baumarkt.
    Ein Teufel, kein Gott. Gib ihm keine Macht. Nicht mal dem Teufel. Das war alles viel zu viel. Teufel hatten Gewalt und Kräfte, die Menschliches überstiegen, die meine Kräfte überstiegen. Aber nicht er. Er hatte das nicht.
    Er ist ein Kerl, der sich einen perversen Spaß daraus macht, Mädchen in einen Keller zu sperren, sie zu beobachten, sich einen drauf runterzuholen oder was auch immer. Etwas revoltierte in mir bei diesem Gedanken, und gleichzeitig fiel mir etwas auf. Er hatte bisher keinerlei anzügliche Bemerkungen gemacht. Er hatte nicht versucht, mir irgendwie nah zu kommen.
    Ich hatte aufgehört zu kratzen. Das Pulsieren in den Fingern erinnerte mich daran, wozu ich hier schuftete. Du musst dich ausruhen, sagte ich mir, und stieg hinab. Ich setzte mich hin, auf das Bett. Ich trank einen Schluck und aß eines der Sandwichs mit Tomate und Mozzarella. Den Käse mochte ich nicht, gummiartig und eigentlich fast geschmacksneutral füllte er meinen Mund. Ich aß alles. Ich brauchte alles.
    Halb liegend, halb sitzend streckte ich mich aus. Von der Anstrengung befreit, schienen die Arme über der Bettdecke zu schweben. Meinen linken Arm ließ ich über die Kante baumeln; mein Werkzeug behielt ich in der Hand. Ich wollte nicht tief und fest schlafen, vielleicht Stunden später erst aufwachen und zu viel von der wertvollen Zeit verstreichen lassen.
    Ein Papst, entsann ich mich, vor fünfhundert Jahren oder noch länger, ruhte immer mit dem Schlüssel in der Hand; wenn er richtig einschlief, knallte der auf den Boden, und der Mann wachte auf. Seine Methode, um im Schlaf nicht ermordet zu werden.
    Sie funktionierte auch bei mir. Zweimal klimperte es, und ich schreckte auf. Nach dem dritten Mal stand ich auf und arbeitete weiter.
    Die Schmerzen in den Armen waren jetzt noch schlimmer. Aber das Gitter saß lockerer. Ich war mir sicher. Es war noch zu früh, um mich mit meinem ganzen lächerlichen Gewicht daran zu hängen, aber es bewegte sich.
    Nach einer Weile begann ich zu summen. Ich weiß nicht, warum mir ausgerechnet dieses Lied einfiel. Eigentlich musste ich es hassen. Es erinnerte mich an Geronimo. Geronimo, der jetzt nur noch
er
für mich war.
    Sag niemals nie, klang die Stimme in mir. Es gibt Eichhörnchen, die fahren Wasserski. Never say never. Wir sind Energie. Wir bewegen die Welt.
    Ich öffnete die Lippen unter dem Mundschutz, sofort drang ein bisschen Staub in meine Kehle, aber ich störte mich nicht daran. Ich begann zu singen. Zuerst leise.
    «Wir sind alle gut und schön, so wie wir sind. Wir sind Energie, die keiner verliert oder gewinnt. Wir bewegen die Welt. Und dieser Weg hört niemals auf. Ja.»
    Die Müdigkeit und die brennenden Muskeln ließen sich davon nicht beeindrucken. Aber meine Gedanken dämpften die Empfindungen.
    «Wie gut kann die Zeit hier auf der Welt sein», sang ich weiter, schon etwas lauter, wiederholte die Zeile: «Wie gut kann die Zeit hier auf der Welt sein. Ja.» Am Ende waren es mehr Schreie als Gesang: «Never say never, sag niemals nie, denn es gibt Eichhörnchen, die fahren Wasserski … ja, ja, ja … jaaaa», hallte meine Stimme durch den Raum.
    Ich schluchzte. Tränen strömten unter der verstaubten Binde, die meine Augen wieder bedeckte. Die Schluchzer erschütterten meinen Körper. Ich konnte mich nicht mehr halten, der Nachttisch rutschte, kippte von der Sitzfläche des Stuhls, ich schlug der Länge nach auf den Boden, meine Stirn knallte gegen eine Kante, augenblicklich spürte ich das Blut über meine Schläfen rinnen.
    Ich blieb liegen. Atmete ein, atmete aus.
    Als sich das Licht mit einem leisen Klacken einschaltete, lag ich immer noch auf dem Boden. Lange konnte ich nicht so dagelegen haben. Das Blut an meinem Kopf war noch nicht vollständig getrocknet. Ich aß und trank und kratzte weiter. Nach ein paar Minuten, vielleicht war es auch eine Stunde, sang ich wieder. So laut ich konnte.

51
    Stella gegenüber pendelte

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