Unsichtbare Blicke
Annika Borden auf der Gefühlsskala meistens irgendwo zwischen kühl bis eiskalt und herablassend. Die brünette Juristin hatte ein Prädikatsexamen und ein paar Semester in Oxford vorzuweisen, was ihrer Karriere einen gewissen Schub gegeben hatte. Die meisten Staatsanwaltschaften hatten es längst abgelegt, die Kriminalpolizei als ihre Hilfstruppen zu betrachten – was sie formal waren. Annika Borden musste das noch lernen. Auch jetzt war ihr Tonfall für ihr Alter und ihre paar Erfahrungen, die sie bisher als Staatsanwältin gesammelt hatte, entschieden zu frech.
«Sie wissen, dass Ihre sogenannte Beweisführung vorwiegend aus Vermutungen besteht? Beweisen und vermuten, das ist zweierlei, Ihnen muss ich das doch nicht erklären?»
Meistens hatte Annika Borden schlichtweg recht, das hatte Stella schon oft bemerkt; wenn man sie zu nehmen wusste, bog sie die Paragraphen, bis sie krachten. Fast. Dieses
fast
hatte sie genau im Gespür. Nicht umsonst trug sie den Spitznamen Anni-
get-your-gun
-Borden.
«Selbst, wenn Sie ihm nachweisen können, dass er mit Josie Sonnleitner unter diesem Nickname gechattet und ihr die Fotos geschickt hat – das ist weder eine Entführung noch sonst etwas. Und den Zusammenhang mit den beiden Morden?!» Die Staatsanwältin hob die Arme und stieß einen Laut aus, der arg an ein laues Lüftchen erinnerte. «Im Moment
wissen
wir nur, dass er Mitte der Neunziger die leibliche Mutter des Mädchens gekannt hat.»
«Und dass er zur selben Zeit im Hotel in Gera war, als Lena Zusak kurz darauf verschwand», sagte Stella.
Borden las weiter in der Ermittlungsakte, die Stella zusammengefasst hatte.
Es war neun Uhr am Morgen. Stella hatte bestenfalls eine knappe Stunde auf der Pritsche im Sanitätsraum gedöst, war aber hellwach. So wach, wie sie nur das Jagdfieber machen konnte, wenn sie das sichere Gefühl hatte, auf der richtigen Fährte zu sein. Ihre Augen brannten, beim Blick in den Spiegel hatte sie sich erschreckt. Rot gerändert, dunkle Ringe. Haare, die einer Wäsche bedurften.
Saito ging es nicht viel besser, aber er war wenigstens zu Hause gewesen, um sich in einen seiner ungezählten dunkelblauen Anzüge und ein frisches Hemd zu werfen.
Im Augenblick wartete Stella sehnlich darauf, dass er endlich an die Tür klopfte, möglichst mit der richtigen Information in der Tasche. Kompromisslos richtig.
«Er hat mit der Sache zu tun.»
Noch einmal stellte sie Punkt für Punkt klar, warum sie so sehr dran glaubte. Wester war knapp vierzig, wohnte allein und abgeschieden, nach Bernhard Tschelchers Auskunft über Westers fast zweijährigen Lehrgang zu einer Art abgespeckten Fachinformatiker verfügte er über die notwendigen Computerkenntnisse, er betreute Immobilien in Thüringen und Sachsen-Anhalt, war also viel unterwegs, und er fuhr einen Kombi, wenn auch nicht den erhofften Volvo, so doch einen dunklen Fünfer- BMW Touring – genug Raum, um eine Person zu transportieren, die nicht auf den anthrazitfarbenen Ledersitzen Platz nehmen sollte.
Stella wollte den Durchsuchungsbeschluss, und sie würde ihn bekommen. Winterstein hatte sich noch einmal mosernd dazwischengeworfen, die Maßnahmen seien grenzenlos übertrieben, ob sie nicht gleich mit einem Sondereinsatzkommando und Polizeipanzern losbrettern wolle! Ohne die richterliche Anordnung war sie aufgeschmissen. Sie musste die Staatsanwältin überzeugen.
Nach einer Ewigkeit klopfte jemand an die Tür.
Annika Borden rief den Besucher herein. Mit dem ersten Blick in Mikis Gesicht entspannte Stella sich und sank zurück in den Besucherstuhl. Sie schob ein Pfefferminzbonbon in den Mund, um wenigstens selbst nicht ihren abgestandenen Atem zu riechen.
«Es gibt eine Verbindung Westers zu den zwei Fundorten der Leichen», rückte Saito sofort mit der Information heraus. «Es handelt sich bei der Wuppertaler Fabrikhalle, dort wurde Celine Morgenthau gefunden, um die ehemalige Produktionsstätte eines Herstellers von Töpfen. Wester hat acht Jahre in einer Firma gearbeitet, die Töpfe produziert.»
«Herr Saito …» Annika Borden klang nicht gerade erfreut. «Dieser Wester hat vielleicht einmal in seinem Leben in einem Haus aus Ziegelsteinen gewohnt, und diese Halle wurde aus ebensolchen gebaut. Ist
das
eine Verbindung?»
«Zugegeben, das war nur unsere erste Idee», ließ Saito sich nicht abbringen. «Aber Westers Firma, die ImmoTreu GmbH, konzentriert sich zwar auf Immobilien in der ehemaligen DDR , und da in erster Linie auf
Weitere Kostenlose Bücher