Unsichtbare Blicke
seit dem Tod der Eltern. Und wenn ich Tschelcher richtig verstanden habe, auch schon vorher.»
Ein mulmiges Gefühl beschlich Stella; sie konnte sich nicht entschließen, das kleine Equipment zum Öffnen fremder Türen, das sie in Saitos Tasche wusste, zu benutzen. Saito hatte ihr die Entscheidung jedoch abgenommen.
«Die hintere Tür hat schon auf ein kleines Husten … äh … reagiert.»
Sein Unschuldsblick war schlecht gespielt.
«Du meinst, ein kleines Husten mit deiner wohlgeformten Schulter?»
«Vielleicht hat ein Einbrecher sie aufgeschoben, da müssen wir dann nachschauen, Freund und Helfer, du weißt schon!»
«Okay.» Stella warf alle ihre Bedenken in weniger als einer Sekunde wieder über den Haufen. «Aber du rührst nichts an. Wir gehen nur einmal durch und … schauen.»
Was sollten sie schauen? Ob Josie Sonnleitner an einen gusseisernen Ofen gekettet war? Geknebelt ans Bett gefesselt? In einem Wandschrank verborgen?
Die hintere Tür quietschte laut und vernehmlich, der Wald hinter dem Haus warf das kreischende Geräusch zurück. Ein paar Vögel erwiderten den Ruf und flatterten gen Himmel.
Stella verdrehte die Augen. Noch ein paar Takte drohender Musik, und sie fühlte sich wie in einem Hitchcock-Abklatsch. Sie rührte sich nicht von der Stelle. Nichts passierte. Das Haus schien tatsächlich leer zu sein. Sie hatte Westers Überwachung angeordnet. Die Kollegen hingen an Wester dran, sie hatte ihnen eingebläut, dass sie sich melden sollten, wenn er Richtung Heimat fuhr.
«Weiter?», fragte Miki Saito.
Stella nickte. Wenn sie ganz ehrlich war, erfüllten sie solche kleinen Übertritte immer noch mit einem fast kindischen Spaß am Verbotenen. In ihrer Ausbildung hatte sie gelernt, solche Gefühle abzuschütteln. Sie vernebelten im entscheidenden Moment den Blick auf die wirklichen Gefahren. Das Kribbeln im Bauch hatte sie jedoch nie vollständig in Griff bekommen.
Sie durchquerten einen kleinen Vorraum.
An der Wand hing eine grüne Wachstuchjacke, daneben ein breitkrempiger Hut, verstaubt und schon länger nicht mehr getragen, ein Paar Gummistiefel stand auf einem Metallrost. Links ging eine Tür ab, hinter der sich ein Duschbad mit Handwaschbecken und WC verbarg, rechts die recht geräumige und blitzsaubere Küche in rustikaler Eiche, ein kleiner Flur mit einem Windfang, dahinter der Haupteingang.
Nach Westen hin knickte das Gebäude L-förmig ab. Vielleicht war dieser Teil einmal angebaut worden. Er beherbergte Schlaf-, Wohn- und Arbeitszimmer in einem Raum. An den Wänden hingen Aquarelle in etwas überladenen Goldrahmen: Küstenlandschaften, Dünen, ein Leuchtturm, ein Fischkutter. Stella nahm die Bildunterschriften, die der Maler in eine Ecke gepinselt hatte, genauer in Augenschein. «Kühlungsborn», murmelte sie. Die anderen konnte sie nicht entziffern.
«Hier», hörte sie einen Ruf aus dem Flur.
Ärgerlich drehte Stella sich um. Ihr war etwas durch den Kopf gegangen, jetzt war der Gedanke weg.
«Was denn», fragte sie genervt.
«Die Dachluke», antwortete Saito. Er zog eine Klappe unter der Decke des Flurs auf. Eine Leiter rutschte ihm entgegen. Er konnte sich gerade noch mit einem gewagten Hopser nach hinten vor den scharfkantigen Stufen retten. Die Stützen knallten auf die Holzdielen.
Stella schob ihren Kollegen zur Seite und erklomm eine Stufe nach der anderen, bis ihr Kopf oben in der Luke verschwand. Plötzlich schlug ihr ein gleißender Lichtschein entgegen.
«Hab den Lichtschalter gefunden», rief Miki Saito von unten.
Der Dachboden war genauso sauber wie der Rest des Hauses. Und leer. Nur ein ausrangierter Wäscheständer lehnte an einem Holzbalken. Sie schlossen die Luke wieder und wanderten noch einmal durch die Räume.
«Wo ist eigentlich der Waffenschrank?», stellte Saito eine sehr berechtigte Frage. «Hast du nicht gesagt, er ballert im Schützenverein herum?»
Ein Waffenschrank war Stella nicht aufgefallen. Sie öffnete nun doch mit spitzen Fingern und Latexhandschuhen die Schränke, tastete die Rückwand des Kleiderschranks ab. Keine Waffen.
«Dann bewahrt er sie in seinem Apartment in Weimar auf.»
«Wir müssen los», entschied Stella. Als sie in den Wagen stieg, klingelte ihr Handy. Am liebsten hätte sie es ignoriert, zumal sie die Nummer nicht kannte. «Van Wahden», meldete sie sich, hörte zu und schleuderte das Telefon auf die Ablage. Der Akku-Deckel löste sich, gab seinen Inhalt frei und rutschte in irgendein Nichts zwischen Sitz und
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