Unsichtbare Blicke
die Schlagzeile ihnen entgegen:
Adoptionsmörder! Zwei Mädchen in Gefahr.
«Mist», zischte Stella, nachdem sie den Artikel im größten Boulevardblatt des Landes überflogen hatte. Es hatte schon wieder einer etwas an die Presse gegeben. Langsam wuchs das unangenehme Gefühl, dass Winterstein vor keinem Mittel zurückschreckte, um Stella zu schaden.
Der Text enthielt zum Glück nicht viele Details, aber was sie las, reichte auch. Vor allem die Verbindung der vermissten Mädchen zu den zwei ermordeten Mädchen hatten sie bisher verschwiegen, die Suche nach ihnen allgemein gehalten. Dass Spekulationen ins Kraut schießen würden, war zu erwarten gewesen; mit der Geschichte von Tania und Celine wurde daraus eine echte Story, der Aufmacher, bundesweit und in allen Medien.
Der Direktor des Sankt-Vinzenz-Hospitals schob nun die Akte über den Tisch. «Schauen Sie sich die Unterlagen in Ruhe an, oder brauchen Sie eine Kopie? Dreht es sich bei dieser Geburt um eines der Mädchen?»
Stella nickte. Sie nahm die Mappe. «Haben Sie damals nach dem Namen der Mutter geforscht?»
«Natürlich versuchen wir das», antwortete der Chefarzt. «Der Sozialdienst kümmert sich um so etwas und nachher auch das Jugendamt, bevor sie das Adoptionsverfahren in Gang setzen. Unser Haus ist beliebt für so etwas, das spricht sich rum. Wir schauen erst einmal, wie wir den jungen Dingern helfen können und bringen die Babys gesund auf die Welt. Die Abrechnung, die Kosten …», er seufzte, «… na ja, das kommt später, was unseren Verwaltungsrat nicht unbedingt freut.»
«Kann ich mit der Ärztin sprechen oder jemandem vom Pflegepersonal, die damals bei der Entbindung dabei waren?»
Ein Kopfschütteln war die Antwort. «Die Kollegin Wormser ist nicht mehr bei uns.»
Stella verstand nicht sofort, dass die Ärztin nicht nur das Krankenhaus verlassen hatte.
«Eine Grippe verschleppt, vor zwei Jahren, Herzmuskelentzündung, weitergearbeitet, wir hätten besser auf sie achten müssen.»
«Krankenschwestern, Hebamme?»
«Frau Bentlage hilft Ihnen, so gut es geht.» Er nickte der Sekretärin zu. «Die Pflegeberichte sind nur mit Kürzeln versehen. Versuchen Sie, mit der Personalabteilung die Schwestern und Pfleger aufzulisten. Die Hebamme schreibt immer einen eigenen Bericht, das dürfte am leichtesten sein.»
Stella bedankte sich. Während Melissa Bentlage die gewünschte Liste erstellte, setzte Stella sich auf eine Bank vor dem Haupteingang des Krankenhauses. Ein paar traurige Gestalten mit eingegipstem Arm oder Augenklappe standen neben einem im Boden verankerten Aschenbecher und saugten ihre Glimmstängel auf; eine Frau klammerte sich an den Infusionsständer, an dem ein Beutel mit einer durchsichtigen Flüssigkeit baumelte. Auch sie steckte sich eine Zigarette an.
Stella zückte ihr Handy und wählte Saitos Namen aus der Kontaktliste. Vielleicht hatte er endlich die Sonnleitners ausfindig gemacht. Nach dem siebten Klingeln sprang die Mailbox an, Stella drückte sie weg und ging nach ein paar Minuten wieder hinein.
Melissa Bentlage hatte die Liste schneller zusammengestellt als erwartet. Vom allgemeinen Pflegepersonal war noch genau eine Schwester da, die sich an nichts erinnerte. Über fünfzehn Jahre waren eine lange Zeit. Wenn überhaupt, so mutmaßte die Frau in den Vierzigern, die Stella mit müden Augen musterte, habe Ellen Lotter, die Hebamme, etwas für sie.
«Ellen ist nicht ganz freiwillig gegangen, sie hat es mit ihren Voodoo-Methoden ein bisschen übertrieben», klärte Melissa Bentlage Stella auf. «Ich mochte sie sehr, mag, sie lebt ja noch. Ein paar Bücher über sanfte Geburt, Hausgeburten und so hat sie geschrieben.»
«Was bedeutet Voodoo-Methoden?», wollte Stella wissen.
Die Sekretärin wand sich ein wenig, rückte dann aber doch mit der Sprache heraus. Ellen Lotter hatte einer werdenden Mutter im Rahmen der Geburtsvorbereitung von einem indianischen Ritus erzählt, genau erinnerte sich Melissa Bentlage nicht mehr daran. Die Patientin hatte ihr Kind verloren und behauptete nachher, Ellen Lotter habe ihr dringend empfohlen, diese angebliche Squaw aufzusuchen.
«Ich habe Ellen schon angerufen. Sie können bei ihr vorstellig werden, sie hat heute offene Sprechstunde in ihrer Praxis im Prenzlauer Berg.»
Stella bedankte sich und nahm eines der Taxis, die am Straßenrand auf Patienten des Krankenhauses warteten. Im Prenzlauer Berg gab es wahrscheinlich nur wenige Geschäftszweige, die ein so gesichertes
Weitere Kostenlose Bücher