Unsichtbare Blicke
Einkommen garantierten wie eine Praxis für Geburtshilfe. Allein auf den paar hundert Metern von der S-Bahn-Haltestelle Schönhauser Allee – wo Stella noch eine Tasse Kaffee und ein belegtes Brötchen in einem Stehcafé verdrückte – bis zur Erich-Weinert-Straße stolperte sie alle naselang über Kinderwagen, Mütter mit Baby auf dem Bauch und Kleinkind an der Hand, schwangere Frauen, Väter, die ihren Stolz auf den Schultern balancierten. Sie erinnerte sich, dass sie irgendwo gelesen hatte, der Prenzlauer Berg sei der Bezirk in Deutschland mit der höchsten Geburtenrate.
Kein Wunder, dass ihr Ex sich in diesem Stadtteil niedergelassen und einen Service für Nachhilfeunterricht eröffnet hatte. Den Gedanken, ganz zufällig mal bei ihm reinzuschneien, verwarf Stella so schnell, wie er sich eingeschlichen hatte. Sie hatte kein Interesse, mit ihrer Nachfolgerin zusammenzutreffen, die auch geschäftlich Kramers Partnerin geworden war.
Die Hebamme war, wie Stella kurz darauf erfuhr, eine der wenigen Ureinwohner des Kiezes, die sich nach der Wende in ihrer alten Umgebung hatten halten können. Mit deutlich durchklingender Berliner Schnauze begrüßte sie Stella und führte sie direkt in einen Raum, an dessen Tür ein Schild mit der Aufschrift
Privat
hing.
«Hab gerade eine Mutter drinnen, dauert aber nicht mehr lang, dann nehm ich Sie dazwischen.»
Das Zimmer, in dem sie sich wiederfand, maß kaum zehn Quadratmeter. Die Längsseite beherrschte eine rotsamtene Ottomane mit einem niedrigen arabisch anmutenden Tischchen davor. Sattes Orange schmückte die roh verputzten Wände, am Fenster lag eine Matte mit einem Meditationskissen vor einem buddhistischen Gebetsschrein. Ein Hauch von Sandelholz lag in der Luft.
Stella setzte sich auf das Sofa. Am liebsten hätte sie den Kopf auf die Lehne der Ottomane gelegt und die Augen geschlossen, aber sie wusste, wie schnell sie in einen tiefen und lautstarken Schlaf verfiel.
«Ick weiß nicht, wo mir der Kopf steht heute», meldete Ellen Lotter sich knappe zehn Minuten später zurück. Sie hielt ein in braunes Leder gebundenes Buch in der Hand.
Das Alter der Hebamme war schwer einzuschätzen, aber sie musste mindestens Anfang sechzig sein, schätzte Stella. Das sanfte Gesicht stand in verwirrendem Gegensatz zu der Dynamik und dem Elan, den sie ausstrahlte. Sie trug ein Gewand aus fließender sonnengelber Seide mit weit überschnittenen Ärmeln; ihre Figur war darunter kaum auszumachen.
«Wenn ich nicht jeden Tag sitzen würde, hielte ich das nicht aus. Sie müssen das auch einmal probieren, das sehe ich Ihnen an.»
Den ratlosen Blick ihres Gegenübers quittierte Ellen Lotter mit einem entwaffnenden Lächeln, das seine Wirkung vor allem deshalb entfaltete, weil es ohne jedes Ziel, ohne Forderung war; kein Lohn, kein Dank, nicht einmal eine Erwiderung erwartete dieses Lächeln. Stella konnte sich gut vorstellen, wie von den Wehen geschundene Frauen darauf reagierten.
«Ich meine meditieren, aber ich sage lieber
sitzen
. Mehr ist es nicht, hinsetzen, achtsam sein, atmen. Sie kennen das doch, wie wichtig der Atem ist, na ja, das lernt man ja überall in den Kursen. Das war bei Ihnen doch bestimmt auch so?»
«Frau Lotter, ich bin hier, weil …»
«Sie haben doch ein Kind?»
«Ja, aber …»
«Sehen Sie.»
Stella wusste nicht, was sie mit diesem
sehen Sie
meinte, allerdings spürte sie, dass sie sich nicht weiter einsaugen lassen wollte. «Ich bin hier, weil ich Informationen über eine Geburt brauche. Sie liegt über anderthalb Jahrzehnte zurück.»
Der Nachsatz, dass Stella auf ihr Erinnerungsvermögen hoffe, erübrigte sich. An fast jede Geburt erinnere sie sich, meinte Ellen Lotter, die Frage sei, ob ihre Form der Erinnerung in einer Mordermittlung helfe. «Aber ich kann Ihre Frage beantworten, Frau van Wahden. Oder darf ich Stella sagen?»
Sagen Sie, was Sie wollen, dachte Stella. Die Frau begann, ihr auf die Nerven zu gehen. Eine Frage hatte sie nicht gestellt, nicht mal dazu Atem holen hatte sie können. Es passierte nur selten, dass eine Zeugin oder ein Verdächtiger Stella in dieser Weise die Regie über eine Befragung entziehen konnte.
«Die Frau heißt Lena Bruckner», sagte die Hebamme.
4 . Mai 1993
Er fühlte sich in der Einsatzkleidung wohl, obwohl die Kollegen alle darüber schimpften; im Sommer zu warm, im Winter zu kalt, und die coolen Jungs konnten in den unförmigen Hosen und Jacken ihre vielen Stunden in der Muckibude nicht zur Schau
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