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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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stellen.
    Tuitio fidei et obsequium pauperum.
    Das stand in der Zentrale über der Tür, mit dem Wappen, dem weißen Kreuz auf rotem Grund, in einem Rahmen, der mal geputzt werden musste. Auf den Leitsatz des Vereins pfiff er. Glauben, Hilfe für Bedürftige. Scheißdreck. Die anderen pfiffen auch drauf, sie machten das Ganze nur, um nicht zur Bundeswehr zu müssen.
    «Hast du deine Ohrenstöpsel», fragte Tschelcher. Der Einsatzleiter tat so, als wären sie noch nie auf einem Rockfestival gewesen. Konzerte, Demos, Fußballspiele, das war alles nichts Neues, er wusste, auf was es ankam, aber Tschelcher rasselte alles noch mal runter.
    Behandle mich nicht wie einen blöden Ossi, hätte er ihn am liebsten angeschrien, ich hab gelernt, verdammt viel gelernt, du fetter Arsch. Aber er ließ es.
    Er war still, und wenn Tschelcher wollte, dass er Bernhard sagte, sagte er Bernhard; und wenn Tschelcher wollte, dass er bei den Johannitern mitmachte, machte er mit; und wenn Tschelcher demnächst mit seinem Schützenverein ankam, machte er auch das, das machte er auf jeden Fall. Schießen lernen war nicht schlecht; und bei der Feuerwehr würde er auch mitmachen. Solange Tschelcher die Hand über ihn hielt, ließen ihn die Leute in Ruhe. Sollten sie doch reden, Tschelcher erstickte das Geschwätz im Keim.
    Ich will meine Ruhe, bin kein Kind mehr, ich will für mich sein, hatte er Tschelcher gesagt, als er vor einem Jahr in die Hütte von Thorsten und Petra gezogen war. Er nannte sie immer Thorsten und Petra, nie anders, nicht mal «seine Alten». Sie beherrschten sich, aber er spürte, wie sie zusammenzuckten, wenn er Thorsten oder Petra sagte, und das war nicht der einzige Weg, ihnen das Leben zur Hölle zu machen.
    Das ganze Dorf zerriss sich das Maul. Er hatte Tschelcher was vorgeheult, wie alles gewesen war, drüben im Heim; die fiesen Sachen hatte er ihm erzählt, und die Leute im Dorf hatten begonnen, einen Bogen um den anständigen Thorsten und die liebe Petra zu machen, die sich nicht den Teufel darum geschert hatten, was mit dem Kleinen drüben, in der Zone, passiert war. Tschelcher hatte schon dafür gesorgt, dass alle es wussten, dafür durfte er den Ersatzpapa spielen.
    Ohrenstöpsel waren auf Rockkonzerten manchmal das wichtigste Ausrüstungsteil. Zwei kleine schwarze Plastikkegel, die wie Miniatursendemasten aus den Ohren ragten. Jumbojets, Presslufthammer, Kurt Cobain. Die Dinger würgten alles ab. Er war froh, wenn das Festival vorbei war. Drei Tage hintereinander Krach, Besoffene, Krach, Bekiffte, Krach und Pisse überall, weil zu wenig Dixies aufgestellt worden waren. Es gab immer zu wenig Klos, aber nach drei Tagen bei der Hitze hatte man das Gefühl, die fremde Pisse stand einem in den Ohren.
    Er und ein Mädchen aus der Stadt und Stefan Prinz aus dem Nachbarort besetzten das Sanitätszelt vor dem Stadion, ein paar bezogen den Raum irgendwo in den Katakomben, die RTW -Besatzung stand sowieso fest, nur Kröcker, einer der Notärzte fehlte noch, typisch Halbgott in Weiß, sparte sich die Einsatzbesprechung.
    Am liebsten wäre er aufgestanden und hätte allen die ganze Leier noch einmal runtergebetet. Er konnte das Ganze nämlich in- und auswendig. Kröcker war derjenige, dem man den Ablauf eines Großeinsatzes auf einem Konzert einbläuen musste, nicht ihm und den Jungs, aber er wollte keine Welle machen, er machte nie eine Welle, er war immer schön still und tat, was man ihm sagte.
    Die ersten dusseligen Weiber, die entweder zu viel Bier oder zu wenig Wasser getrunken hatten, lagen schon nach einer Stunde auf der Pritsche im Zelt. «Hörst du mich?», fragte er, und sie furzte, ist das möglich, das Weibsstück in ihren zerrissenen Netzstrümpfen und mit einem Lederrock, aus dem man nicht mal Flicken für die Ärmel machen konnte, furzte. «Brauchen wir den Kröcker?», fragte Prinz.
    Prinz Stefan von Stade, so stellte er sich bei den Mädchen vor. Haha. Er kam aus Stade, toller Witz, Prinz Stefan, aber die Mädchen fielen auf ihn rein und auf seine Bullen-Nummer, Kripo, darauf standen sie.
    Er schüttelte den Kopf. «Wer braucht den Kröcker? Dehydriert. Infusion.»
    In den Vorschriften stand es nicht gerade, dass sie selbst eine Infusion legen durften, aber wenn man sich daran halten wollte, brauchte man das dreifache Personal bei einem Einsatz wie dem. Und er legte gerne Infusionen.
    «Du brauchst Flüssigkeit», sagte er zu dem Punkmädchen auf der Pritsche, «dann geht’s gleich wieder.» Er packte

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