Unsichtbare Blicke
Sein holländischer Akzent hörte sich sehr lustig an. «Wir graben dich in den Sand, das ist lustig.»
Bleib an dem Strand, dachte ich jetzt, bleib bei Mats, den ich am Abend dieses Tages gleich in meine Spiele mit dem Barbie-Camper eingebaut hatte. Bleib bei Mats, auch wenn er nicht Felix ist, wenn du an Felix denkst, musst du weinen. Oder schreien.
Der Lappen hatte süßlich gerochen und gleichzeitig chemisch; eine Mischung, die mein Empfinden für den kurzen Augenblick, den mir das weiche Tuch auf Nase und Mund gepresst worden war, völlig durcheinanderbrachte. Der Mann hatte geschimpft, mit mir geschimpft, wie mit einem kleinen Kind. Ausgeschimpft, er hatte mich ausgeschimpft. «Warum hast du mir nicht gesagt, dass das Flittchen im Anmarsch ist, warum nicht, du bist ein böses Mädchen, aber das wird sich ändern.»
Dieser Tonfall, die Stimme, das machte mir Angst, aber ich hatte keine Zeit zum Angsthaben, das Zeug auf dem Lappen wirkte schnell.
35
Stellas Blick schweifte über die Reihe von gerahmten Fotografien an der Wand hinter der Sekretärin. Melissa Bentlage gehörte seit knapp vierzig Jahren zum Personal des Sankt-Vinzenz-Hospitals, seit zehn Jahren hütete sie das Vorzimmer des Klinikchefs. Als sie Stellas Blick auf die kleine Galerie bemerkte, kicherte die Sekretärin und sagte: «Ich hab schon einige hier überlebt!», womit sie wohl die Riege der würdevollen Herren in weißen Kitteln meinte, die neben ihr auf den Fotos in die Kamera gelächelt hatten.
Ihre lockere, fast ein wenig nachlässige Kleidung stand im Kontrast zu dem Hermès-Tuch, das sie trug. Es rutschte ihr bei jedem Satz über die Schulter; sie zupfte es mit einer schnellen Bewegung jedes Mal wieder zurecht. Stella war sich sicher, dass es ein Tuch des französischen Edeldesigners war; sie hatte genug davon zu Hause gesehen, im Schrank ihrer Mutter.
Das Archiv, in das Melissa Bentlage Stella führte, glich eher der Kulisse für einen Historienschinken aus der Zeit des Schwarzweißfilms: ein muffiges Souterraingewölbe, in das nur durch ein paar verstaubte Scheiben oben am Deckenrand etwas Tageslicht fiel. Ein Labyrinth von Regalen durchzog den weitläufigen Raum.
«Herr Lippert, der Chef möchte, dass wir Frau van Wahden helfen», stellte die Sekretärin klar, nachdem sie Stella dem Archivar vorgestellt hatte. «Es geht um eine Geburt aus dem Jahr …» Sie schaute Stella hilfesuchend an.
« 1994 . Ein Mädchen …»
Lippert strich sich zweimal über die Hosenbeine und wippte dabei leicht vor und zurück, als müsse er für eine Antwort Anlauf nehmen. «Schätze stationär, also 30 , ha’m wir», sagte er, ohne Stella anzuschauen. Seine Stimme war rau, als habe er an diesem Tag die ersten Worte gesprochen. Vielleicht konnte man nur solche Leute in ein solches Archiv setzen, dachte Stella.
«Stationäre Patientenakten müssen wir 30 Jahre aufbewahren, Ambulanzberichte nur zehn, aber Geburten sind bei uns grundsätzlich mit einer stationären Aufnahme verbunden», erklärte die Sekretärin.
«Name der Mutter?»
«Helene Krause, das stand jedenfalls in den Akten der Adoptionsstelle», sagte Stella.
Lippert verschwand in den Gängen seines Reiches. Es dauerte eine Viertelstunde, in der Melissa Bentlage versuchte, den Grund für das Interesse der Polizei an einer Geburt aus den neunziger Jahren zu erforschen. Stella widerstand ihrem Charme. Als der Archivar mit einer Hängeregistermappe zurückkam, schnappte die Sekretärin sich die Unterlagen, bevor Stella danach greifen konnte. Erst im Büro ihres Chefs gab sie die Mappe wieder aus der Hand. Der Professor blätterte die Akte durch und seufzte. «Ja, das kommt vor», sagte er.
«Was kommt vor?», fragte Stella.
«Die Mädchen geben irgendeinen Namen an, und dann verschwinden sie nach der Geburt. Aber das ist immer noch besser, als das Würmchen sonst wo auf die Welt zu bringen und es in den Binsenkorb zu legen. Die Kinder werden dann nach einer gewissen Zeit zur Adoption freigegeben.»
Stella spürte in ihrem Rücken die Aufregung, die Melissa Bentlage ergriffen hatte. Der Atem der Frau ging schneller und schwerer. Ein tiefes Schlucken bereitete die aufgeregte Frage vor: «Sie suchen den Adoptionsmörder?», gluckste sie.
«Wie bitte?», fragte Stella. Sie drehte sich um.
Der Professor schaute seine Sekretärin erstaunt an. Diese lief ins Vorzimmer, ein Rascheln und ein leiser Fluch waren zu hören, dann kam sie mit einer Zeitung zurück. In großen Lettern schrie
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