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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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sterile Kanülen aus.
    Die anderen hielten ihn für einen Eigenbrötler, nannten ihn den Ossi, und manchmal erwischte er auch den ein oder anderen, der einem neuen Ehrenamtler was von «einen an der Klatsche» und «haben sie drüben eingesperrt» steckte. Aber er hatte sich immer zusammengerissen und keine Welle gemacht und sich zu Hause genommen, was ihm zustand.
    Scheißdreck, hätte er am liebsten geschrien, Scheißdreck, drübengelassen haben sie den Jungen, drüben, und vor die Hunde gehen lassen, das haben sie, nichts muss man ihnen hoch anrechnen. Aber er hatte nichts gesagt, keine Welle, machte still die Ausbildung, die Thorsten ihm im Betrieb besorgt hatte.
    Thorsten, nicht Paps oder Papa, nicht mal Vater hatte er ihn genannt und immer schön gekuscht und sich seine Hütte hinten am Wald ausgebaut, wo er für sich sein konnte, anfangs schlief er ab und zu dort, das konnten sie ihm nicht verbieten, auch wenn Thorsten es nicht gerne sah, aber Thorsten legte sich nicht mit ihm an.
    Thorsten. Paps. Papa. Arschloch.
    «Sie tun mir weh», hörte er die krächzende Stimme der Punkerin.
    Er zuckte zusammen.
    «Scheiße, du stichst ihr ja durch den Arm, Mann!», blaffte jemand. Kröcker schubste ihn zur Seite.
    Das sollte er gefälligst lassen, er hasste es, wenn ihn jemand einfach wegstieß, das hasste jeder, und von Kröcker ließ er sich so was schon gar nicht gefallen. Er sprang auf und wollte ihm an den Kragen gehen, der Hocker kippte, der Ständer, an dem der Beutel mit der Kochsalzlösung hing, wurde mitgestoßen, die Kanüle riss mit einem schmatzenden Geräusch aus der Armbeuge des Mädchens.
    Ich lege dir dein dämliches Stethoskop um den Hals, und dann wollen wir mal sehen, wie lange die Luft reicht, dachte er, aber er trat einfach aus dem Zelt, und als Kröcker das Mädchen endlich an den Tropf angeschlossen hatte und bei seinem Anblick nur den Kopf schüttelte, musste er an den kleinen Werner denken. Irgendwie sah Kröcker dem kleinen Werner ähnlich. Wo er wohl war?
    Monk saß im Knast, das hatte er mitbekommen, hatte ihm sogar ein paarmal geschrieben. Er wollte eigentlich nichts mehr mit drüben und Kleinsdorff und den Leuten zu tun haben. Auch nicht mit denen, die ihn für so einen Opferverein haben wollten, um Kohle rauszuholen, Entschädigung, mit was sollten die ihn auch schon entschädigen? Nur anderthalb Jahre nach der Wende saß Monk hinter Gittern, aber da war es angeblich besser als in Kleinsdorff. «Pass immer auf, dass du kein Opfer wirst», hatte Monk damals gesagt. Daran würde er sich halten.
    Kröcker hätte dort bei ihnen sein sollen. Das wäre ein Spaß gewesen, einer wie Kröcker hätte es nicht lange gemacht. Monk hätte ihn fertiggemacht.
    Er dachte selten an Kleinsdorff.
    Nach dem Einsatz tranken die anderen noch ein Bier. Er hätte dabeibleiben sollen, auch einen hinter die Binde kippen und Zoten reißen über die ganzen Freaks und über Kröcker und Konsorten, aber er hatte keinen Bock. Es wäre besser, das wusste er. Es wäre auch besser, sie mal einzuladen. Alles wäre besser, aber er war einfach lieber allein.
    Außerdem brauchte er mit dem Fahrrad fast eine Stunde bis nach Hause.
    Auf der halben Strecke zischte es an seinem Vorderreifen. Eine fette Scherbe steckte im Profil.
    «Dreck», knurrte er und schob.
    Als der zerbeulte Toyota Hiace neben ihm hielt, hätte er den Fahrer fast angeschrien, verpiss dich, du Arschloch, aber er sah das Mädchen am Steuer und beherrschte sich. «Können wir dir helfen?», fragte sie und kicherte, und ihre rothaarige Freundin auf dem Beifahrersitz kicherte auch. «Panne? Sollen wir dich mitnehmen?»
    Was sollte das Kichern? Warum kicherten sie so, wenn sie ihm helfen wollten? Aber er nahm ihr Angebot an. Das Auto hatte eine kleine Ladefläche, halb Van, halb Transporter. Es war weiß, bis auf die Tür auf der Fahrerseite, sie war ersetzt worden und rotbraun grundiert, wahrscheinlich sollte sie noch in der Wagenfarbe lackiert werden, was Schwachsinn war, jeder Pfennig für die Karre war zu viel ausgegeben. Er warf das Fahrrad hinten auf die Ladefläche.
    Das Auto hatte zwar eine Rückbank, aber die war vollgestopft mit Schlafsäcken, zwei Kühltaschen und etwas, das wie der Rest eines Zelts aussah. Die Jüngere auf dem Beifahrersitz hatte seinen Blick gesehen.
    «Nun komm schon», sagte sie.
    Sie rutschte zur Seite und machte einen schmalen Streifen Platz für ihn. Ihre nackte Schulter stieß gegen seine, als er die Tür hinter sich zuzog.

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