Unsterbliche Küsse
Wölbung der Kuppel warf. »Uns fehlen Seile und eine Kletterausrüstung.«
»Geht auch ohne.«
»Boogles’ Roost ist schlimmer.«
»Du bist schließlich kein Frischling mehr.« Stimmt! Sie hatte James überwältigt und Sebastian überzeugt, hatte das Blut eines Sterblichen getrunken, und der Mann, den sie liebte, bot ihr nach vierundzwanzig anstrengenden Stunden eine Besteigung der Kuppel von St. Paul’s an, einfach so. »Stütz dich mit den Knien und den Schultern ab, halte dich gut fest und pass dich der Wölbung an. Lass dir Zeit, und wenn du abrutschst, flieg.«
Seinem Beispiel folgend, breitete sie die Arme und Beine aus, presste ihre Hüften an die Bleiverkleidung und erklomm so die Kuppel. Aber mit Treppensteigen hatte die Aktion wenig zu tun, und sollte sie während des gestrigen Flugs noch keine klare Vorstellung ihrer neuen Kraft gewonnen haben, dann tat sie es jetzt. Das ungeheure Ausmaß der Kuppel überstieg ihr Vorstellungsvermögen. Man hatte nur den Himmel über sich, und die Ruhe dort oben, hoch über den Straßen Londons, war fast unheimlich. Immer höher stieg sie, wenige Schritte hinter Christopher, bis sie ganz oben neben dem großen, vergoldeten Kreuz angekommen waren, das die Laterne in der Mitte der Kuppel krönte. Sie schaute zu dem großen Querbalken über ihren Köpfen hinauf.
»Sollen wir da hinaufklettern?«, fragte Christopher.
»Warum nicht?«
Er überließ ihr den Vortritt, und schon nach kurzer Zeit saßen sie zusammen auf der jeweils linken und rechten Hälfte des Querbalkens, hundertzehn Meter hoch über dem Erdboden. Die Sterne schienen zum Greifen nahe, die Luft war klar und frei von Auspuffgasen, und neben ihr saß ihr Geliebter. Dixie fühlte sich beinahe wie im Himmel. Und zu Hause, das wusste sie, würde er dann auch das letzte Stück Weg gemeinsam mit ihr gehen.
»Bald«, versprach er. »Zuerst musst du saugen.«
Sie hätte nie gedacht, dass der Mund eines Vampirs vor Angst austrocknen konnte. »Ich dachte, du hättest gesagt, nur alle ein oder zwei Wochen.« Mit einer Woche zumindest hatte sie gerechnet, um sich überhaupt mit der Vorstellung vertraut zu machen; und auch ihr erstes Mal beruhte ja nicht auf einer ruhigen und überlegten Entscheidung, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie brauchte einfach noch mehr Zeit, um sich an die Vorstellung zu gewöhnen, von dem schrecklichen Vorgang selbst ganz zu schweigen.
»Normalerweise ja.«
»Normalerweise?« Was um Himmels willen war den normal für einen Vampir?
»Du musst lernen, es richtig zu machen. Man kann nicht einfach über den nächstbesten Sterblichen herfallen. Das schadet unserem Ruf.« Dieser Vorwurf saß, auch wenn der Schimmer in seinem Auge nicht so hart war wie seine Worte.
»Versteh mich doch, ich bin nicht freiwillig zur Vampirin geworden. Es ist einfach passiert, und ich muss mich noch daran gewöhnen.«
»Ich gewöhne mich noch immer daran, und vielleicht ist es zu zweit ja einfacher.« Er berührte ihre Wangen und Lippen im Geiste, ehe er sich zu ihr hinunterbeugte und sie küsste. Jegliche Verstimmung, Ärger und Gereiztheit verflüchtigten sich bei der zarten Berührung seiner Lippen.
»Du warst sicher schon oft hier oben.« Sie wollte fragen, wen er sonst schon auf die Kuppel mitgenommen hatte.
Er nickte und wandte den Blick nach unten auf den glänzend schwarzen Fluss. »Ich war in der Nacht hier, nachdem sie dieses Kreuz hier oben angebracht hatten. Ich war schon oft hier, aber immer allein. Es ist so still und friedlich hier oben. Deswegen habe ich dich mitgenommen.«
»Damit ich Frieden finde?«
»Damit du besser verstehst, was du bist.«
Hätte ihr Herz noch geschlagen, dann hätten seine ruhigen Worte augenblicklich zu dessen Stillstand geführt. Was war sie? Die Fürwörter »wer« und »was« vollführten einen wilden Tanz in ihrem Kopf. Dixie LePage, Schulbibliothekarin, Medienspezialistin, Tochter von Mr und Mrs Robert LePage und Vampirin. Wie würde sie damit beim nächsten Klassentreffen dastehen? Als würde das eine Rolle spielen. Sie hatte soeben die Kuppel von St. Paul’s erklommen, sie konnte fliegen und Christopher Marlowe liebte sie.
Sie würde das Klassentreffen schwänzen.
»Ich habe ewig Zeit, darüber nachzudenken, und falls ich durcheinanderkommen sollte, wirst du oder Tom oder Justin mich sicher korrigieren.«
Christophers Auge glänzte. In Gedanken berührte er ihren Hals, eine zarte und federgleiche Liebkosung, die sich über die Schultern und die Arme
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