Unter dem Baum des Vergessens -: Ein Leben in Afrika (German Edition)
bei der Geburt vertauscht worden bist. Dir geht die Liebe zum Clan ab. Treue zur Familie über alles. Blut, Blut, Blut.« Um der Sache Nachdruck zu verleihen, ist sie dazu übergegangen, mich den Leuten als ihre »amerikanische Tochter« vorzustellen. Dann legt sie eine bedeutungsvolle Pause ein, um meine Andersartigkeit, mein unverhohlenes Von-drüben-Sein einsinken zu lassen, bevor sie mit freudlosem Lachen hinzufügt: »Also hütet eure Zunge, oder ihr landet in einem ihrer grässlichen Bücher.«
An dieser Stelle lässt Mum keinen Zweifel an ihrer Überzeugung, dass das Blut ihrer Vorfahren in meinen blauwandigen Venen eine Art Vollbremsung hingelegt haben muss. Infiziert von amerikanischer Gewöhnlichkeit, treulos bis zum Gehtnichtmehr, wird das Schottische in meinen Adern wie bei einem Druckverband abgeklemmt. Ich bin keine tausendprozentige Hochlandschottin. Ich gehöre nicht zum Clan. Für Heimatgefühle habe ich nichts übrig. Ich habe das wunderbare alte Afrika verschmäht und den Atlantik überquert, um mich der langweiligen Neuen Welt anzuschließen. Und was das Schlimmste ist: Das alles habe ich in einem grässlichen Buch breitgetreten wie in der Jerry Springer Show .
Der Mann in Casper, Wyoming, dessen Job es war, Menschen zu verhören, die sich im Cowboy State als Amerikaner einbürgern lassen wollten, hatte fast sein ganzes erwachsenes Leben beim Militär zugebracht. Sein Kiefer wurde von einem Draht zusammengehalten, weshalb er durch geschlossene Zähne sprechen musste, und das klang dann so, als könnte er nur mit größter Mühe einen tief empfundenen Hass auf die Welt im Allgemeinen und Einwanderer in die Vereinigten Staaten im Besonderen unterdrücken. Er stellte mir ein paar Fragen zur Verfassung und dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, wollte wissen, wie viele Sterne auf dem Sternenbanner leuchten und in welcher Farbe, bevor er zu den zutiefst persönlichen Fragen wechselte.
»Sind Sie oder waren Sie jemals Mitglied der Nazi-Partei?«
»Nein«, sagte ich.
»Sind Sie oder waren Sie jemals Mitglied der Kommunistischen Partei?«
»Nein«, sagte ich.
»Sind in Ihrer Familie«, wollte der Mann wissen, »Fälle von Geisteskrankheit bekannt geworden?«
Mum hätte in einer solchen Situation die Genugtuung einer Studentin durchströmt, der man eine Examensfrage zu einem Thema stellt, mit dem sie sich ihr Leben lang beschäftigt hat. Sie hätte sich für eine ausführliche Antwort behaglich zurückgelehnt und begonnen: »In der Tat gibt es in unserer Familie seit Jahrhunderten Anzeichen geistiger Instabilität: seltsame Anwandlungen, psychische Labilität, Depressionen, solche Dinge.«
Ich schaute dem Mann nur fest in die Augen, schüttelte entschieden den Kopf und antwortete: »Nein.«
Und so kam es – weil ich meine Mutter und den Großteil ihrer Vorfahren verleugnet hatte –, dass ich im Frühherbst 2002 als Ausländerin zum ersten Mal schottischen Boden betrat. Mein nagelneuer blauer amerikanischer Reisepass sah sehr flach und sehr glatt und deshalb auch fast ein bisschen gefälscht aus, als wäre ich eine mit provisorischen Papieren ausgestattete Auftragsspionin. Ich mietete mir ein Auto und fuhr nach Westen, quer durch Schottland, bis die Straßen einspurig und die Landschaften immer zerklüfteter und ungestümer wurden. Wie auf den Postkarten gab es auch in Wirklichkeit überall Schafe, und Schafe hatten überall Vorfahrt (sie blieben mitten auf der Straße stehen und schauten ungnädig aus der Wolle, wenn ich um sie herumrollte). Als ich jedoch nach Skye kam, waren da plötzlich Elefanten, Kamele und Kaffernbüffel auf den dreieckigen gelben Schildern zu sehen, die andernorts vor Schafen warnten. Vorsicht, Elefanten auf der Straße. Vorsicht, Kamele auf der Straße. Vorsicht, Kaffernbüffel auf der Straße.
Kaum hatte ich mir ein Cottage für eine Woche gemietet, fing es natürlich an zu regnen. Es war kein normaler Regen, auch kein normaler, starker Regen, nein, so muss es sich anfühlen, wenn irgendein Allmächtiger auf die Idee kommt, mal eben den Ozean über deinem Kopf auszuschütten. Der Wind blies so heftig, dass er alle naselang die Alarmanlage des Autos auslöste. Möwen flogen an den Fenstern des Cottages vorüber – rückwärts. Vier Tage lang verließ ich das Haus nicht, weil ich nicht glauben wollte, dass ein solches Wetter ewig dauern konnte. Am fünften Tag packte ich mich von Kopf bis Fuß in wasserdichte Materialien und wagte mich mit Landkarte und Laptop
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