Unter dem Deich
aber keine Worte. Während sie auf den Kreisel wartete, dachte sie: »Wie ist es nur möglich, dass ich den Kreisel so viele Jahre hier habe liegen lassen?« Als Piet mit dem Kreisel und der Peitsche ins Zimmer kam, riss sie ihm das Spielzeug aus den Händen und berührte ihn dabei mit ihren langen Fingernägeln. Er erschauderte. Sie stand auf, ging aus dem Zimmer, stieg die Treppe hinunter, drehte sich um und sah ihn bewegungslos oben an der Treppe stehen.
Sie fragte nur: »Willigst du jetzt ein?«
Er nickte und flüsterte: »Ich werde mich drum kümmern.«
Sie ging durch die Nieuwstraat. Am Fuß der Wip zögerte sie. Sie dachte: »Wie einfach es doch ist, von unten nach oben auf den Deich zu gelangen. Man muss nur die Wip hinaufsteigen.«
Sie stieg ein paar Stufen die Wip hinauf, blieb stehen und dachte: »Und trotzdem bleibt der steile Hang nahezu unüberwindbar. Seltsam eigentlich, wo doch die Distanz zwischen unter dem Deich und über dem Deich so klein zu sein scheint, kaum existent, sie wird nur kurz sichtbar, wenn man beim Arzt gefragt wird: ›Kasse oder privat versichert?‹ Oder wenn man ins Krankenhaus kommt und sich die Frage stellt, ob man ein Einzelzimmer bekommt. Oder wenn man stirbt und die Hinterbliebenen zwischen einem Mietgrab und einem eigenen Grab wählen müssen. O ja, die Distanz ist unendlich viel kleiner als die zwischen der Frau, die in der Metro gesessen und gebettelt hat, und einem reichen Franzosen. Aber gerade weil der Abstand so klein ist, kaum wahrnehmbar, wird er nicht als Problem betrachtet, als etwas, bei dessen Überbrückung man der Hilfe bedarf. Und doch bleibt jemand, der unter dem Deich aufgewachsen ist, dort sein Leben lang hängen, selbst wenn er später in einem Palast residiert. Man kann die Gewohnheiten und Sitten, die Sprache und die Gebräuche von über dem Deich erlernen, aber alles, was dort passiert, wird einem immer wesensfremd bleiben, während man zugleich, wenn man die Sprache von über dem Deich gelernt hat, nie wieder zurück kann. Man ist für immer dazu verdammt, zwischen allen Stühlen zu sitzen.«
Sie stieg die Wip wieder hinunter. Sie hörte die Turmuhr schlagen. Der Markt war menschenleer. Nicht einmal in der Polizeiwache brannte Licht. Mit einer raschen Bewegung von Daumen und Zeigefingern – und erst in dem Moment, als sie diese Bewegung machte, wurde ihr nicht nur bewusst, dass sie noch genauso geschickt war wie vor fünfundzwanzig Jahren, sondern auch dass dies im Kern genau die gleiche Handlung war wie der Sprung, den sie an diesem Abend nicht gemacht hatte – ließ sie den Kreisel rotieren.
Topografischer Epilog
Das Paradies existiert nicht mehr. Der breite Wall voller Klatschmohn, buttergelber Löwenmäulchen und stark duftendem Raps ist asphaltiert; der Damm mit dem parallel verlaufenden Weg ist jetzt eine breite Verkehrsader. Die lieblichen Polder links und rechts vom Weg sind mit Einfamilienhäusern, Apartmenthäusern, Kirchen, Schulen, Einkaufszentren bebaut. Die Galeriekornmühle De Hoop ragt heute aus einem Wald von Verkehrsschildern und Ampelanlagen hervor. Die Mühle selbst wirkt unverändert, doch wer erinnert sich nicht daran, dass am 2. September 1963 das Flügelkreuz, just nachdem dreißig Schulkinder singend vorbeigezogen waren, mit lautem Donnern herabgefallen ist. Seltsamerweise hat niemand den Sturz der Flügel beobachtet, ebenso wenig wie die Zerstörung der Galerie, die durch den Sturz verursacht worden ist. Für die Menschen von unter dem Deich war es ein erneutes Zeichen dafür, dass, wenn man schon von Baufälligkeit sprach, diese eher über dem als unter dem Deich zu finden war. Das Flügelkreuz der unter dem Deich gelegenen Wippersmühle war schließlich jahrhundertelang an seinem Platz geblieben. Das Viertel beim Friedhof ist unverändert geblieben, aber der Julianapark, einst der Stolz der Gemeinde und nach der Wip der zweite Platz, der elektrisch beleuchtet wurde, ist größtenteils dem Friedhof zugeschlagen worden. Auf dem Friedhof selbst wurden viele Bäume gefällt, sodass die ehemals laubbeschattete Anlage heute einen entblößten Anblick bietet. Den Kleinen Schilfrohrsänger findet man dort nicht mehr. Der Teichrohrsänger hat sein Heil woanders gesucht. Der Grauschnäpper schaut noch jedes Jahr vorbei, kann aber seinen Nistplatz im Efeu an der Kapelle nicht wiederfinden, weil die Kapelle mit ihrer herrlichen Akustik einer Urnenwand hat weichen müssen. Seltsam ist, dass, wie sich jetzt zeigt, nie ein Foto
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