Unter dem Deich
stimmt«, sagte sie, »daran erinnere ich mich auch.«
»Ja, warum sollte ich lügen?«
»So war es tatsächlich.«
»Bestimmt, und du hast mit dem Kreisel gespielt und bist einfach nicht nach Hause gegangen.«
Sie stand da, schluckte ein paarmal, fühlte eine wilde, verzweifelte Freude in sich aufsteigen. Sie dachte: »Warum ist es so wichtig, dass das, was ich in Paris geträumt habe, tatsächlich passiert ist?« Sie wusste es nicht, sie wusste nur, dass sie den alten Mann am liebsten umarmt und an sich gedrückt hätte. Sie schluckte erneut, wollte etwas sagen, schluckte noch einmal. Der alte Mann sagte: »Du hast einfach weitergespielt! Du hast einfach nicht auf mich gehört! Erst als dein Kreisel gegen einen Baum gestoßen und umgefallen ist, bist du nach Hause gegangen.«
»Ich geh jetzt auch lieber nach Hause«, sagte sie.
»Sehr gut«, sagte er.
Auf dem ansonsten stillen Bürgersteig der Burgemeester de Jonghkade ging sie nach Hause zurück. Sie schaute hinauf zum beleuchteten Ziffernblatt der Turmuhr und wunderte sich, dass sie noch lebte. Sie überquerte die Gleise, ging an ihrem Haus vorüber, spazierte durch den Hafen und dachte: »Hier wohne ich jetzt, das sind die Kulissen meines Lebens, dieses unansehnliche Stück Raum und Zeit ist mir zuteil geworden, gehört zu mir, oder besser gesagt: Ich gehöre zu diesem Hafenstädtchen und zu dieser Turmuhr. Wieso? Weshalb? Welchen Sinn hat es, dass ich hier entlanggehe und nachher wieder zu Hause bin?« Dann fiel ihr ein: »Wenn mein Leben keinen Sinn hat, dann spielt es auch keine Rolle, dass Jan und Maud mich betrogen haben.«
Langsam stieg sie die Wip hinunter. Langsam ging sie durch die Nieuwstraat. Sie dachte: »Es ist zu spät, um noch zu klingeln.« Trotzdem drückte sie auf den Klingelknopf. Piet öffnete die Tür. »Mein Kreisel ist noch hier. Würdest du ihn für mich aus der untersten Schublade der Kommode holen? Und auch die kleine Peitsche, die daneben liegt?«
»Komm doch einen Moment rein«, sagte Piet.
»Nein«, erwiderte sie, »lieber nicht, es ist schon spät, ich möchte nur meinen Kreisel holen.«
Er starrte sie an. Ihr war klar, dass er dachte: »Sie ist verrückt geworden.«
»Ich hole ihn für dich, wenn du kurz reinkommst«, sagte Piet.
»Nun denn.«
Sie folgte ihm ins Wohnzimmer. Der Stuhl, in dem sie so oft gesessen hatte, stand noch immer an der gleichen Stelle beim Fenster. Auf einmal kam ihr der Gedanke, dass einer der Gründe, weshalb sie sich zum höchsten Anleger der Fähre begeben hatte, der war, dass ihr erst jetzt, nachdem ihr das Gleiche wiederfahren war, was sie Piet angetan hatte, klar geworden war, wie sehr sie Piet gedemütigt hatte. Sie dachte: »Aber jetzt ist alles wieder so wie vorher, jetzt hat mich ein Mann von über dem Deich verstoßen, den ich mir anstelle eines Mannes von unter dem Deich erwählt hatte.« Es kam ihr so vor, als verstünde sie endlich, weshalb Piet die ganzen Jahre über nicht in eine Scheidung hatte einwilligen wollen. Sie dachte: »Wenn ich ihn verlassen hätte, um mit jemandem von unter dem Deich zusammenzuziehen, dann hätte er nichts gegen eine Scheidung einzuwenden gehabt. Bestimmt willigt er jetzt in die Scheidung ein.«
»Nimm Platz«, sagte er.
Sie setzte sich auf den Stuhl, der vom Fenster am weitesten entfernt stand. Piet flüsterte: »Ich habe gehört …«
»Ja«, sagte sie, »das stimmt.«
Sie legte die Hände in den Schoß. Sie sah, dass Piet beim Anblick ihrer langen lackierten Fingernägel heftig erschrak. Sie dachte: »Hätte ich das bloß früher gewusst, dann hätte ich ihn schon vor Jahren erschrecken können. Dann wäre er vielleicht mit der Scheidung einverstanden gewesen, und ich wäre möglicherweise mit Jan verheiratet, und Jan hätte nie etwas mit Maud angefangen. Dass Männer so einfach gestrickt sind und einer solchen Kleinigkeit eine derart hohe Bedeutung beimessen.« Dann fiel ihr ein, dass sie selbst Männer, die Schals zu ihren Oberhemden trugen, schon beim ersten Anblick abstoßend fand. Sie dachte an eine Passage, die sie bei Pascal gelesen hatte: »Mein Vorstellungsvermögen lässt mich Antipathie gegen jemanden empfinden, der eine kratzige Stimme hat oder beim Essen schnieft.« »Kleinigkeiten«, dachte sie, »das ganze Leben wird von Kleinigkeiten bestimmt, durch winzige Details, die kaum Bedeutung zu haben scheinen, die aber trotzdem alles beeinflussen.«
»Ich hol dann mal deinen Kreisel«, flüsterte Piet.
Sie wollte etwas sagen, fand
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