Unter dem Deich
hatten Jan und Maud zusammen Tennis gespielt und waren tanzen gewesen, ohne dass sie davon gewusst hatte. Es war logisch, verständlich und vollkommen in Ordnung, dass die beiden miteinander Tennis gespielt und getanzt hatten; ganz und gar nicht in Ordnung aber war, dass sie es hinter ihrem Rücken gemacht hatten. Das empfand sie als erniedrigend, das machte ihr wieder einmal deutlich, dass sie aus der Sandelijnstraat stammte, einer Straße, in der niemand Tennis spielte oder zum Tanzen ging. Seit sie davon wusste, sah sie, wenn sie die Augen schloss, einen sonnenüberfluteten Tennisplatz vor sich. Sie sah den Ball übers Netz hin und her fliegen, sie sah die schnell geschwungenen Schläger, sie sah die ganze Welt, an der sie nie teilhatte. Ach, es ging nicht um den Sport als solchen, sondern um das, wofür dieser Sport stand. Eine Welt des Luxus, eine Welt, in der die Jungen und Mädchen ganz selbstverständlich zum Gymnasium gingen und in den Genuss freier Nachmittage und langer Ferien kamen. An diesen freien Nachmittagen konnten sie Tennis spielen oder segeln gehen. In den großen Ferien konnten sie durch Europa reisen. Sie konnten in eigenen Zimmern ihre Hausaufgaben machen oder ungestört lesen. Nach dem Gymnasium konnten sie studieren. All die Trauer um eine Lebensweise, die für sie niemals erreichbar gewesen war, hatte das unschuldige, aber geldverschlingende Ballspiel wieder wachgerufen. Wäre diese Lebensweise je für sie zur Realität geworden, dann hätte sie sie vielleicht abgelehnt. Jetzt hatte sie allerdings nicht die Wahl gehabt, jetzt zeigte sich erneut, dass man, wenn man von unter dem Deich nach oben auf den Deich gezogen war, in den entscheidenden Momenten immer noch unter dem Deich lebte. Sie spielte kein Tennis, also spielte ihr Mann mit ihrer besten Freundin Tennis. Sie tanzte nicht, also tanzten ihr Mann und ihre beste Freundin miteinander. Sie hatte nicht einmal gewusst, und das war das Schlimmste, dass die beiden sich auf Tennisplatz und Tanzboden gefunden hatten. Erst jetzt, nach all den Monaten, wurde ihr klar, dass Jan an mindestens der Hälfte der vielen Abende, an denen er zwecks Weiterbildung zum Gymnasiallehrer nach Rotterdam gemusst hatte, mit Maud in der Stadt gewesen war, um zur Musik der Harbour Jazz Band zu swingen. Sie sehnte sich überhaupt nicht danach, selbst Tennis zu spielen oder zu tanzen, ganz zu schweigen davon, dass sie hätte swingen wollen. Aber gerade deswegen fand sie es nur umso erniedrigender, dass all das hinter ihrem Rücken geschehen war. Sie hatten ihr nicht einmal gegönnt zu wissen, was da passierte. Sie dachte: »Und das Schlimmste ist, dass ich es ihnen nie werde erklären können. Sie werden nur denken, ich wäre eifersüchtig.«
Sie stand einfach nur da. Draußen war es noch nicht dunkel, es dämmerte nicht einmal. Es war einer dieser Sommerabende im Juni, der die ganze Nacht zu dauern schien. Sie dachte: »Ich bin froh, dass David im Schullandheim ist und nicht miterleben musste, wie sein Vater heute Morgen zwischen Tür und Angel Abschied von seiner Mutter genommen hat. Unglaublich, dass das schon seit Monaten so geht und dass sie fast ebenso lange Vorbereitungen getroffen haben, zusammenzuziehen. Und ich habe von nichts gewusst, ich wusste nicht, dass er sich in Rotterdam auf eine Stelle als Lehrer beworben hat, dass er angenommen worden ist und im September schon anfängt. Ich wusste nicht, dass er sich in Rotterdam eine Wohnung gemietet hat, ich wusste nicht, dass er und Maud bereits um Weihnachten verabredet haben, zusammen in Urlaub zu fahren. Auch wieder typisch für die besseren Kreise! In Urlaub fahren und dafür schon Weihnachten Pläne machen! Und all das hat an dem Abend angefangen, an dem ich mit Maud bei meinem Vater und meiner Mutter zu Besuch war. Als Maud gesehen hat, aus welchem Nest ich stamme, da hat sie nichts mehr davon abgehalten, sich an Jan ranzumachen. Nach dem Besuch war ich für sie erledigt. Und ich selbst habe daran mitgewirkt, ich habe sie danach zu mir nach Hause eingeladen und mich darüber gefreut, dass sie sich, als Entschädigung für meinen Vater, so nett mit Jan unterhalten konnte.
Sie wartete, bis es anfing dunkel zu werden. Sie holte ihr echtes Chanel-Kostüm aus dem Schrank, zog Sandalen an, die mit einem Riemchen über dem Fuß festgemacht wurden. »Dann können sie nicht so schnell von meinen Füßen rutschen«, dachte sie. Sie schminkte sich so sorgfältig wie möglich. Einen Moment lang überlegte sie, ob
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