Unter dem Safranmond
Feder griff und sie in die Tinte tunkte. Die letzte Zeile strich sie kurzerhand durch und schrieb in ihrer sauberen Handschrift darunter:
Und übergab einer Ehefrau die Reste.
Sie wartete, bis die Tinte getrocknet war, dann schloss sie sachte das Notizbuch und legte es zurück an seinen Platz, so leise, als fürchtete sie, jemand könnte sie dabei hören.
Doch lange klang es noch in ihr nach:
Ein kleines Mädchen ich aufzähl’ …
In ihrer Unschuld sie stahl mein Herz und Seel’ …
Und hat sie beides nicht noch heut’?
Schlussbemerkung
Ein Werk der Dichtung mischt auf seine Weise
die Wahrheit und die Nachahmung,
das Erlebte, das Wiedergegebene,
die Vorstellung, die Biografie.
P HILIPPE L ABRO
In diesem Roman sind Fakten und Fiktion eng miteinander verwoben. Neben all den fiktiven Charakteren, mit denen ich so viel Zeit verbracht und von denen ich jeden einzelnen auf seine Art ins Herz geschlossen habe – Maya, Jonathan und die gesamte Familie Greenwood, Ralph Garrett, Rashad al-Shaheen und Djamila, sowie eine ganze Reihe an Nebenfiguren –, treten jedoch auch einige Personen auf, die tatsächlich gelebt haben.
Angefangen in Oxford bei Professor Stephen Reay und Dr. Bulkeley Bandinel, die damals Hüter der Schätze der Bodleian Library waren, die 1853 so ausgesehen hat, wie ich sie beschrieben habe, bis hin zu Commander S.B. Haines, der Aden 1839 für die britische Krone in Besitz nahm wie im Roman erzählt. Seine Nachfolger waren nacheinander Colonel J. Outram und Colonel W. Coghlan. Das Wirken seiner rechten Hand Lieutenant R.L. Playfair und des Kaplans G.P. Badger sind ebenso historisch belegt wie die Tätigkeit von Dr. John »Styggins« Steinhäuser als Arzt der kleinen britischen Kolonie am Südwestzipfel der arabischen Halbinsel. Meine Schilderungen von Aden unter britischer Herrschaft zu jener Zeit beruhen zu großen Teilen auf R.J. Gavin, Aden under British Rule, 1839-1967 (London, 1975). Jonathans Briefe aus dem Krimkrieg und sein Schicksal basieren ebenfalls auf historischen Fakten bzw. Erlebnissen, genauso wie Ralphs Erfahrungen in Indien vor und während des Sepoy-Aufstandes.
Es erscheint zwar kaum vorstellbar – aber selbst heute wissen wir noch erstaunlich wenig über das Landesinnere im Süden Arabiens, in dem ein Gutteil dieses Romans spielt. Bis in die jüngste Zeit hinein waren bestimmte Landstriche im Süden der heutigen Republik Jemen Sperrgebiet für ausländische Reisende, und auch heute sind in manchen Regionen weder Touristen noch Archäologen gern gesehen und Fahrten dorthin gefährlich: Noch immer ringt der moderne Staat damit, dass die althergebrachten Stammesrechte sich als stärker erweisen als die in der Verfassung niedergeschriebenen Gesetze.
Die Recherchen dafür, eine Vorstellung von Land und Leuten Mitte des 19. Jahrhunderts zu bekommen, waren aufwändig und mühselig. Doch was ich zusammentragen konnte, genügte, um das fiktive Sultanat von Ijar erstehen zu lassen, dessen gleichnamige Stadt ich ungefähr an die Stelle des realen Bayhan al-Qisab gesetzt habe. Geschichte, Verwaltung, Sitten und Landschaft sind dem entlehnt, was ich über die tatsächlichen Sultanate des Südens aus jener Zeit recherchieren konnte. Was ich an Dokumenten und Berichten fand, zeichnet ein buntes, vielschichtiges Bild des Südens, in dem vieles an Bräuchen, Lebensart, Kleidung und Verhalten keineswegs einheitlich war. Ich hoffe, ich konnte mit Unter dem Safranmond einen winzigen Ausschnitt aus dieser erstaunlichen Vielfalt zeigen.
Auch der Stamm von al-Shaheen ist fiktiv; seine Lebensweise und Kultur sind zusammengesetzt aus Reiseberichten, die auf die Mitte des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts datieren, und anthropologischen Studien neueren Datums. Anhand der historischen Reiseberichte mit dazugehörigen Karten konnte ich auch die Route planen, die Rashad und Maya auf ihrem Weg nach Ijar genommen haben. Auch wenn einige Stationen dieser Reise heute unter anderem Namen auf den Karten verzeichnet, manche gar nicht mehr identifizierbar oder nur ungefähr zu lokalisieren sind wie etwa der Pass von Talh oder die Sandebene von Al-Hadhina, habe ich mich dafür entschieden, die Ortsbezeichnungen aus den überlieferten Berichten beizubehalten.
Auch die strengen Ehrbegriffe der Stämme wie ’ird, sayyir und rafiq sind Tatsache und gelten bis heute. Für uns, die wir aus einem gänzlich anderen Kulturkreis kommen, sind diese oft nur schwer nachzuvollziehen bzw. voneinander abzugrenzen; eine
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