Unter dem Teebaum
denken sollte.
Als der Morgen kam und die Aufseher laut klappernd das Frühstück verteilten, fühlte sich Amber so zerschlagen, als wäre ein Traktor über sie hinweggefahren. Jeder Knochen tat ihr weh, die Augen brannten. Sie hätte sich gern ein wenig frisch gemacht, doch sie schämte sich vor Lilith. Es gab nur ein Waschbecken in der Zelle und eine Toilette, die nicht einmal durch einen Vorhang vom übrigen Raum abgetrennt war.
Amber musste dringend, doch sie konnte einfach nicht. Nicht, wenn ihr jemand zusah.
Das Riesenweib war schon wach. Sie lag mit unter dem Kopf verschränkten Armen auf ihrer Pritsche und sah freundlich zu Amber.
»Geh ruhig aufs Klo«, sagte sie. »Ich gucke solange in eine andere Richtung.«
»Danke schön«, sagte Amber. »Aber ich verspüre im Augenblick kein Bedürfnis.«
Lilith lachte, lachte so laut, dass Amber glaubte, die Zellenwände würden zusammenstürzen.
»Brauchst dich nicht zu schämen, Schwester, ist hier völlig nutzlos. Irgendwann musst du ja doch. Also quäl dich nicht unnötig.«
Amber stand unschlüssig herum, dann spritzte sie sich ein wenig Wasser ins Gesicht, putzte sich die Zähne und fuhr sich mit einer Bürste über die kurzen Haare. Ich muss mich hier nicht waschen, dachte sie. In ein paar Stunden werde ich zu Hause sein und ein Bad nehmen.
Sie ließ das Frühstück, das aus zwei Scheiben Graubrot, Margarine, einem Klecks Marmelade und Kräutertee bestand, stehen, machte ordentlich ihr »Bett« und wartete mit im Schoß gefalteten Händen darauf, dem Staatsanwalt vorgeführt zu werden. Wenig später kam eine Aufseherin und führte Amber in einen kargen Raum.
25
Hinter einem Schreibtisch saß ein Mann in einer schwarzen Robe. Amber erkannte in ihm den Staatsanwalt. Noch ein weiterer Mann war anwesend, der auf Amber zukam und ihr fest die Hand schüttelte. »Ich bin Silvio Creally, Ihr Anwalt. Dr. Lorenz, ein Freund aus Studententagen, hat mich mit Ihrem Fall beauftragt.«
»Fall?«, fragte Amber ahnungslos. »Ich weiß noch gar nicht, worum es eigentlich geht.«
»Können wir beginnen? Ich habe nicht ewig Zeit!«
Der Staatsanwalt klang genervt. Creally verlangte, sofort zu wissen, was Amber vorgeworfen wird.
»Es hat eine Anzeige gegeben. Steve Emslie, ihr Mann, hat uns mitgeteilt, dass Sie vor fünfundzwanzig Jahren einen Aborigine namens Jonah getötet haben sollen, nachdem Sie bemerkten, dass Sie ein Kind von ihm bekommen werden. Sie erschlugen ihn hinterrücks mit einem Beil und begruben ihn mithilfe Ihres verstorbenen Vaters auf Ihrem Gut. Genau an der Stelle, an der der älteste Teebaum einer Plantage steht.«
Amber starrte den Staatsanwalt fassungslos an, dann schüttelte sie mehrmals hintereinander den Kopf und sagte in einem fort: »Nein! Nein! Nein! Das glaube ich einfach nicht.«
Silvio Creally legte seine Hand beruhigend auf ihren Arm. »Ich mache das schon«, sagte er. »Am besten, Sie sagen überhaupt nichts.«
Er wandte sich an den Staatsanwalt. »Es ist nicht üblich, jemanden zu verhaften, nur weil irgendwer etwas über ihn zu wissen meint. Warum meine Mandantin? Gibt es Beweise dafür, dass sie die Tat begangen hat? Sind die Ermittlungen eingeleitet?«
»Herr Rechtsanwalt, Sie haben es hier nicht mit Anfängern zu tun. Selbstverständlich laufen die Ermittlungen auf Hochtouren. Fest steht, dass der betreffende Aborigine seit fünfundzwanzig Jahren nirgendwo mehr gesehen wurde. Fest steht auch, dass sein Clan, der seit Ewigkeiten in diesem Gebiet gelebt hat, ebenfalls spurlos verschwunden ist. Wir leben alle lange genug in Australien, um zu wissen, dass sich ein Clan nur in Luft auflöst, wenn ein »böser« Geist über ihrem angestammten Land herrscht, was nichts anderes heißt, als dass ein Clanmitglied auf unnatürliche Weise zu Tode gekommen ist.«
»Das mag alles so sein, Herr Staatsanwalt. Trotzdem ist mir noch nicht einsichtig, warum Sie ausgerechnet meine Mandantin verhaftet haben. Es waren sicher zu dieser Zeit noch mehr Menschen auf diesem Gut.«
»Nun, ich sagte bereits, dass Steve Emslie Anzeige erstattet hat. Jetzt, nach der Trennung von seiner Frau, ließ ihn sein Gewissen nicht mehr in Ruhe.«
»Mir kommen gleich die Tränen«, bemerkte Creally und riskierte damit einen zornigen Blick der Staatsgewalt.
»Außerdem gibt es einen Zeugen. Harry Ulster war zur Tatzeit bereits auf dem Gut beschäftigt. Er beobachtete damals die Vorgänge auf dem Gut und hat unter Eid ausgesagt, Mrs Amber Emslie bei ihrem
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