Unter dem Teebaum
»Warum kommen Sie mitten in der Nacht?«
Die Beamten betrachteten ihn überrascht, als hätten sie nicht damit gerechnet, einen Mann in diesem Haus anzutreffen.
»Wer sind Sie?«, bellte der eine. – »Mein Name ist Dr. Ralph Lorenz. Ich bin ein Freund der Familie und Mrs Emslies Gefährte.«
Die beiden Kriminalbeamten sahen sich bedeutungsvoll an, dann wandten sie sich wieder an Amber.
»Wir müssen Sie bitten, mitzukommen. Ziehen Sie sich an, und packen Sie eine kleine Tasche mit Unterwäsche und Waschzeug.«
Amber riss die Augen auf und sah zuerst Ralph, dann die Polizisten an. »Aber warum denn? Was habe ich denn getan?«
»Sie werden verdächtigt, einen Menschen ermordet zu haben.«
Als die Zellentür hinter ihr ins Schloss fiel, konnte Amber noch immer nicht glauben, wie ihr geschah. Sie saß in Adelaide in der Untersuchungshaftanstalt für Frauen! Sie, die niemals auch nur einer Fliege etwas zuleide getan hatte. Oh, sie wusste beim besten Willen nicht, was sie hier sollte. Es muss sich um eine Verwechslung handeln, dachte sie. Sie spürte, wie sich Panik in ihr breitmachte.
Die Polizisten hatten auf der einstündigen Fahrt geschwiegen und Ambers viele Fragen nicht beantwortet. Nur eines hatte man ihr mitgeteilt: »Sie werden morgen früh dem Staatsanwalt vorgeführt. Sie haben das Recht, sich einen Anwalt zu nehmen. Alles, was sie von nun an sagen, kann gegen Sie verwendet werden.«
Amber hatte ähnliche Szenen schon hundert Mal im Fernsehen gesehen. Sie konnte einfach nicht glauben, dass sie nun hier in einem zivilen Polizeiwagen saß und ins Gefängnis gebracht wurde.
»Willkommen, Schwester«, tönte eine volle Stimme aus der Dunkelheit der Zelle.
Amber fuhr herum. Ihre Augen stocherten im Dunkel wie ein Schiff im Nebel.
»Guten Abend«, erwiderte sie höflich.
»Warum bist du hier, Schwester?«, wollte die Stimme wissen.
»Ich … ich weiß es nicht«, antwortete Amber zögernd. »Man hat mir gesagt, der Staatsanwalt würde es mir morgen sagen. Ich glaube, es handelt sich um ein Missverständnis. Gewiss werde ich morgen wieder zurück nach Hause können.«
»Das sagen alle, wenn sie frisch kommen. Ich habe aber noch nie erlebt, dass eine am nächsten Tag wieder gehen konnte. Wenn du jeder Glauben schenken wolltest, so wäre dieses Gebäude voller Justizirrtümer. Ich habe jemanden umgebracht«, bekannte die Stimme gleichmütig. »Ich habe einen Kerl abgestochen, der mich jahrelang geprügelt hat. Oh, Mann, der Typ hat geblutet wie ein Schwein. Gut so! Ich hab all die Jahre zuvor bestimmt mehr Blut verloren. Jetzt ist er hin, und ich bin froh, dass er tot ist. Sollen sie mit mir machen, was immer sie wollen. Alles ist besser als das Leben mit diesem Schwein.«
Amber schwieg.
Hinter ihr war ein Geräusch zu hören. Ein Schatten tappte durch die Dunkelheit. Im Licht, das spärlich durch das vergitterte Fenster fiel, erkannte Amber eine große, kräftige Frau, die ihr die Hand entgegenstreckte.
»Ich bin Lilith«, sagte die Frau und lachte. »Lilith wie die erste Frau Adams. Tja, Eva war auch nur zweite Wahl.«
Sie lachte laut und dröhnend und zerquetschte Amber beinahe die Hand.
»Angenehm. Amber Emslie«, sagte Amber und wusste nicht, wovor sie sich mehr fürchten sollte: vor dem, was ihr morgen geschehen würde, oder davor, mit diesem wahrhaft mörderischen Riesenweib die Dunkelheit zu teilen.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, tönte die Riesin. »Ich tue dir nichts. Es ist mir auch egal, weshalb du hier bist. Man sollte sich im Knast möglichst keine Feinde machen, verstehst du? Die Aufseher können nicht überall sein. Meist machen sie sowieso die Augen zu.«
»Haben Sie … hast du Erfahrung?«
Die Riesin lachte. »Ich habe schon mal eingesessen. In meiner Jugend. Diebstahl. War nicht weiter wild, aber mir hat es gereicht. Mein Leben war von vorn bis hinten verpfuscht. Was soll’s? Ich kann’s nicht ändern. Ob ich im Knast sterbe oder in der Gosse, ist mir letztendlich egal.«
Amber schwieg. Was sollte sie auch sagen? Ihre Blicke irrten durch die Dunkelheit. Sie war müde, so unsagbar müde.
An der Wand entdeckte sie ein Klappbett mit einer Decke darauf.
»Ich werde versuchen zu schlafen«, sagte sie.
Lilith erwiderte: »Tu das. Wirst deine Kraft morgen brauchen. Die Decken stinken, aber sie halten warm. Gute Nacht.«
Amber legte sich auf die harte Pritsche und dachte an Ralph. Was tat er jetzt? Wie dachte er über sie? Aber sie wusste ja nicht einmal selbst, was sie
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