Unter dem Weltenbaum - 01
Behaglichkeit der Behausung. Jayme gehörte nicht zu den Eiferern und Heuchlern, die vorgaben, auf Bequemlichkeit verzichten zu können. In seinem Alter wußten seine schmerzenden Glieder es durchaus zu schätzen, auf hervorragend angefertigten und gepolsterten Möbeln in seinen Gemächern zu ruhen, deren gute Verarbeitung nicht nur den Körper, sondern auch das Auge erfreute. Auch hatte der Vermittler durchaus nichts gegen die Einladungen in die ersten Häuser der Stadt, wo die erlesensten Speisen aufgetischt wurden. Wenn Jayme nicht mit den Verwaltungsaufgaben des Seneschalls beschäftigt war oder den sozialen und geistigen Pflichten seines Amts nachgehen mußte, standen ihm zur geistigen Anregung Tausende ledergebundener Bände auf den vielen Regalbrettern in seinen Räumlichkeiten zur Verfügung. An den freien Stellen standen oder hingen religiöse Ikonen oder Porträts, die von seinen Vorgängern zusammengetragen worden waren und seinem Geist Frieden und seiner Seele Erquickung schenkten. Der Blick aus den strahlendblauen Augen des Vermittlers, die auch nach vielen Jahren der Sündenerforschung unter den Achariten noch wenig von ihrer Sehkraft eingebüßt hatten, wanderte genießerisch über eine besonders schöne Darstellung des guten Gottes. Artor war dort zu sehen, wie er der Menschheit das Geschenk des Pflugs machte. Die Gabe, der die Sterblichen die Befähigung zu verdanken hatten, sich aus ihrer Barbarei zu erheben und sowohl das Land wie auch ihren Geist zu kultivieren.
Bruder Moryson, ein großer, hagerer Mann mit zerfurchter Stirn, betrachtete den Bruderführer mit brüderlicher Liebe und Achtung. Die beiden kannten sich schon seit vielen Jahrzehnten und waren bereits in ihrer Jugend zu den Repräsentanten des Seneschalls am königlichen Hof bestimmt worden. Später waren sie dann in die königliche Hofhaltung selbst übernommen worden. Zu viele Jahre sind vergangen, dachte der oberste Gehilfe mit Blick auf Jaymes Haupthaar und Bart. Beides war vollständig weiß geworden. Sein eigenes schütteres braunes Haar wies zahlreiche graue Stellen auf, wie er nur zu gut wußte.
Als Jayme endlich eingewilligt hatte, das Amt des Bruderführers anzutreten, das er bis an sein Lebensende einnehmen würde, hatte er sogleich verlangt, daß sein alter Freund und Weggefährte Moryson ihm als oberster Gehilfe und Ratgeber zur Seite stehen solle. Sein zweiter Wunsch hatte nicht nur am königlichen Hof für Unruhe gesorgt, sondern auch in der königlichen Familie selbst Bestürzung ausgelöst. Jayme forderte tatsächlich, daß sein Schützling Axis zum Anführer der Axtschwinger berufen werden solle – der Elitetruppe des Seneschalls, die auch sein militärischer Arm war. Mochte König Priam noch so wüten, die Axtschwinger unterstanden allein dem Seneschall, und in diesem Orden war das Wort des Bruderführers Gesetz. Und so war Axis allem königlichen Mißvergnügen zum Trotz zum jüngsten Befehlshaber der Elitetruppe aller Zeiten bestimmt worden.
Moryson, der sich bislang nicht an der Unterredung beteiligt hatte, trat nun vor, wußte er doch, daß der Freund auf seinen Rat wartete. »Bruderführer«, begann der Berater, verbeugte sich tief aus ehrlich empfundener Hochachtung und schob die Hände in die weiten Ärmel seines Habits, »vielleicht wäre uns allen am ehesten damit gedient, wenn wir zuerst einen Blick auf die vorliegenden Fakten werfen. Nehmen wir uns die Berichte vor, die in den letzten Monaten bei uns eingegangen sind. Womöglich stoßen wir dabei auf Gemeinsamkeiten und ein Muster.«
Jayme nickte und bedeutete den beiden Gehilfen, auf den Stühlen vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Die Möbel waren vor vielen Generationen aus einem der uralten Bäume gezimmert und verziert worden, die einst die Weiten von Achar beherrscht hatten. Das gut geölte Holz glänzte anheimelnd im Feuerschein. Besser das Holz diente auf diese Weise dem Menschen, als auf dem Land im Weg zu stehen, das man dem Pflug übergeben wollte. Gehölze oder gar Wälder hackte man lieber ab, statt sie stehen zu lassen, da sie doch zu nichts mehr nutze waren, als den Dämonen der Unaussprechlichen Schutz zu bieten und Schatten zu spenden.
»Wie stets kann ich mich auf die Logik deiner Worte verlassen, Bruder Moryson. Gilbert, erhelle uns doch bitte mit einer Zusammenfassung der Ereignisse, wie sie sich dir bislang darstellen. Schließlich bist du derjenige, der alle Meldungen aus dem Norden gelesen hat.«
Weder Jayme noch Moryson
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