Unter dem Wolfsmond – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Alex-McKnight-Serie (German Edition)
zur 123. Ich war die Strecke so oft gefahren, daß ich nicht mehr zu denken brauchte. Ich hatte die Straße für mich allein, mit Schnee beladene Kiefern säumten sie auf beiden Seiten. Der Wind pfiff durch die Plastikplane. Wenn das Fenster endlich repariert ist, dachte ich, macht mich bestimmt die plötzliche Stille verrückt.
In Paradise gibt es eine Hauptstraße und eine Nebenstraße, die zum Tahquamenon State Park führt. Auf der Kreuzung hängt ein blinkendes Rotlicht. Wenn das eines Tages durch eine richtige Ampel ersetzt wird, wissen wir, daß für uns die große Zeit angebrochen ist. Im Moment gibt es nur eine Tankstelle, drei Kneipen einschließlich dem Glasgow Inn, vier Geschenkeläden und ein Dutzend kleiner Motels für die Touristen im Sommer, die Jäger im Herbst und die Schneemobilfahrer im Winter. Und etliche Hütten verstreut in den umliegenden Wäldern.
Im Glasgow Inn waren die Lichter noch an, aber ich fuhr vorbei. Schließlich muß ich nicht jeden Abend dort Station machen. Nach achtzig oder neunzig Abenden hintereinander hat ein Mann mal Anspruch auf einen freien Abend.
Gut anderthalb Kilometer hinter der Kreuzung führt ein alter Holzweg nach Westen in den Wald. Die erste Hütte links gehört Vinnie. Ich wußte, daß er noch nicht zu Hause sein konnte – er betätigte sich noch wie immer als Fahrer für seine Mannschaftskameraden, die er in der Bay Mills Reservation ablud, wobei er vermutlich mit hundert Stammesverwandten sprechen mußte, die noch immer nicht verstanden hatten, warum er weggezogen sei. Mit viel Glück würde er bei Tagesanbruch zu Hause sein.
Die nächsten sechs Hütten gehörten mir. Mein Vater hatte sie in den sechziger und siebziger Jahren gebaut, in jedem Sommer eine, bis er zu krank wurde, um eine weitere zu bauen. Als ich bei der Polizei ausgeschieden war, kam ich hierhin und plante, eine Weile zu bleiben und sie dann zu verkaufen. Das war vor vierzehneinhalb Jahren gewesen.
Vielleicht hatte Sylvia ja recht. Vielleicht versteckte ich mich vor der Welt.
Ich hatte keine Lust, darüber nachzudenken. Ich war müde. Schon verkrampften sich in der Kälte meine Muskeln. Ich wollte nur noch ein warmes Bett für die Nacht. Jenseits dieses kreatürlichen Bedürfnisses hatte ich lediglich zwei schlichte Wünsche. Mein erster war, daß ich nicht mit schrecklichen Schmerzen aufwachen würde. Ein bißchen Muskelkater war in Ordnung. Aber ansonsten aufstehen können und herumgehen ohne Schmerzensschreie. Und der zweite Wunsch war, daß ich mit diesem Clown Bruckman niemals wieder etwas zu tun bekäme. Typen wie der bringen meine schlechtesten Eigenschaften zum Vorschein. Bitte, laß mich ihn nie wieder treffen.
Nur diese beiden kleinen Bitten. Das ist doch nicht zuviel verlangt im Leben eines Mannes.
Oder doch?
Kapitel 3
Ich erwachte am nächsten Morgen. Ich versuchte den Kopf zu heben. Keine gute Idee. Ich stöhnte, hielt den Atem an, versuchte, mich umzudrehen und dann in eine sitzende Position zu gelangen. Wieder keine gute Idee.
Guter Gott im Himmel, dachte ich. Das war’s dann.
Ich versuchte aufzustehen. Ich scheiterte. Es gibt bestimmte Muskeln, die extrem beansprucht werden, wenn man eine gebeugte Habacht-Stellung bezieht oder seinen Körper hin und her bewegt. Ich weiß das, weil ich diese Muskeln täglich beansprucht hatte, als ich noch Baseball spielte. Die Hüftflexoren. Der Quadriceps. Jetzt ließen mich diese Muskeln wissen, wie mies es ihnen ging. Vierundzwanzig Jahre völlige Ruhe und dann gestern abend.
Ich griff nach einem Stuhl und zog mich hoch. Ah, die Rükkenmuskeln, gespannt wie Klaviersaiten. Die Kniesehnen. Die Lendenmuskel. Was bin ich doch für ein Idiot. Sollte ich jemals wieder zu Kräften kommen, werde ich Vinnie erwürgen.
Eine Dusche. Heißes Wasser auf meinen Körper. Ich steuerte Richtung Bad. Langsam und bedächtig, keine plötzlichen Bewegungen. Jetzt einen Schritt. Gott, tut das weh. Noch einen Schritt. Gott, tut das weh. Langsam schob ich mich quer durch die Hütte, der Holzfußboden kalt und gnadenlos unter meinen Füßen. Durch das Fenster konnte ich sehen, wie der Schnee leise rieselte.
Irgendwie schaffte ich es bis zur Dusche, stellte sie an und wartete darauf, daß das Wasser heiß wurde. Ich betrachtete mich im Spiegel. Mit achtundvierzig sollte man sich so nicht fühlen. Das ist lächerlich.
Ich schrie vor Schmerz, als ich unter die Dusche trat. An der Duschtasse war eine kleine Schwelle, die ich überschreiten mußte, und das
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