Unter Den Augen Tzulans
Schale mit den Pralinen. »Wärt Ihr so freundlich, Perdór?«
Der König blinzelte. »Ich habe mich doch eben verhört? Was soll das heißen?« Auch Alana richtete ihren Oberkörper gespannt nach vorne.
»Ich dachte, es wäre Euch bekannt«, begann der Krieger vorsichtig. »Ich glaubte, wir wären die Letzten, die noch nach dem alten Kalender rechnen.« Er schaute in die Gesichter. »Ihr wusstet nicht, dass die Schlacht bei Telmaran im Jahr 444 und nicht 443 verloren ging? Es gab einen verschleppten Rechenfehler, den unsere Gelehrten anhand der Sternkonstellationen bemerkten.«
»Na, das ist ja ganz hervorragend.« Perdór sank in seinem Stuhl zusammen. »Wir haben die Gelegenheit verpasst, ohne es zu wissen. Aber es fügt sich wundervoll ins Bild.«
»Wenn das Geeinte Heer in diesem entscheidenden Jahr vernichtet wurde, macht es da überhaupt einen Sinn, sich gegen das Unvermeidliche zu stellen?«, fragte die Regentin in die Runde. »Haben wir damit nicht alles schon entschieden?«
»Es macht immer einen Sinn, sich gegen das Böse zu stellen«, meinte Moolpár. »Wir wissen, dass Kensustria zu lange zögerte. Doch wir werden es wieder bereinigen. Mit unseren Kriegern und unserem Wissen. Auch wenn Telmaran verloren ging, es wird sich eine Möglichkeit auftun, wie wir Sinured von Ulldart verjagen können. Die Kriegerkaste Kensustrias steht bereit.«
»Wenn auch nach langem Zögern«, setzte Perdór nach. »Aber es ist vielleicht ganz gut so. Eure Truppen wären durch das Wasser ebenso hinfort gespült worden, ohne etwas zu bewirken. Es freut mich umso mehr, dass Ihr nun mit uns Seite an Seite kämpft, wenn es so weit ist.«
Die Verträge über den Staatenbund zwischen Tersion, Kensustria und Ilfaris wurden unterzeichnet, auch wenn die Übermacht des Kabcar nach wie vor erdrückend erschien. Auch das fehlende Einverständnis des Kaiserreichs Angor barg ein unbekanntes Spannungspotenzial, dennoch fühlten sich die Männer und die Frau wesentlich beruhigter und zuversichtlicher als zuvor.
»Um eines jedoch klarzustellen«, sagte Alana zu den beiden Kensustrianern. »Unsere beiden Reiche mögen vielleicht Verbündete sein«, ihre braunen Augen drückten Ablehnung aus, »aber Freunde werden wir niemals sein. Die Geschichte verbietet es.«
»Die Geschichte, Regentin«, entgegnete Moolpár freundlich, »hat uns vieles gelehrt. Auch, dass sogar aus Feinden Brüder wurden. Aber wir legen keinen Wert auf die Freundschaft zu Tersion. Es genügt uns auch, wenn Ihr Euch an die Abmachungen haltet.«
Beinahe gleichzeitig setzten sie sich in Bewegung und erreichten dadurch fast im gleichen Moment die Tür, die zu schmal war, um zwei Personen parallel passieren zu lassen. Keiner schien jedoch gewillt, dem anderen den Vortritt zu lassen, und so standen sie sich am Ausgang gegenüber und funkelten sich an.
»Aber, aber.« Perdór schwebte heran und versuchte zu schlichten. »Ich habe da eine Idee.«
In Windeseile waren drei Livrierte herbeizitiert worden, die mit schweren Vorschlaghämmern die Tür verbreiterten. Als Gleichberechtigte durchschritten der Mann und die Frau das Loch, stiegen über die Trümmer und gingen in verschiedene Richtungen auseinander.
Betrübt betrachtete der ilfaritische König die ramponierte Tür und die keuchenden Diener, die sich auf die Stiele ihrer Werkzeuge stützten. Schwere körperliche Arbeit waren die Lakaien nicht gewohnt.
»Das schaue sich einer an«, meinte er Kopf schüttelnd und fuhr mit den kurzen, dicken Fingern über die blanken, teilweise gesprungen Steine, die herausragten. »Ich muss meinen eigenen Palast demolieren, damit ich die Gäste los werde. Das nächste Mal verhandele ich unter freiem Himmel.« Er umrundete die größten Steinreste und suchte die Küche auf.
Ulldart, Großreich Tarpol, Hauptstadt Ulsar, Herbst 449 n.S.
Die Gestalt tauchte langsam wie eine lauernde Amphibie aus der stinkenden Brühe auf, in der allerlei Unrat, Abfall und Dreck schwammen. Auf dem Weg unter dem Gefängnis hindurch, das man die Verlorene Hoffnung nannte, nahm der Kanal die Abwässer des riesigen Gebäudes auf, bevor er in den Hauptsammler einmündete. Die Gestalt war so bis unmittelbar vor das Gitter gelangt, das die Backsteinrohre vor unbefugtem Eindringen sichern sollte.
Sie nahm einen wasserdichten, röhrenförmigen Behälter aus den Fluten und legte ihn auf das schmal Sims, schraubte den Verschluss ab und nahm ein Holzkästchen hervor. Der Schubdeckel wurde entfernt und eine
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