Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen
hinterlistiger Strategie verfolgte:
Er liebte es zu unterdrücken, zu knechten, vor allem zu manipulieren – die Menschen unfrei zu machen in ihrem Geist, ihrer Ethik und Moral. Und somit ihre gesellschaftliche Struktur zu unterwandern. Jenen, denen ihre Bigotterie Sicherheit verschaffte, die sie in ihrer Armseligkeit benötigten, schickte er durch seine Helfershelfer die Unsittlichkeit, die unzüchtigen Begierden und verderblichen Gedanken. Anderen wiederum pflanzte er Ungeduld und Herrschsucht in ihre Seelen, machte sie dadurch rast- und ruhelos und raubte ihnen die innere Mitte.
Manchen seiner Geschlechtsgenossen verlieh er den Geist der Lästerung und die spitze Zunge des Spotts, schickte ihnen prahlerische Worte die Kehle hinauf. Die ohnehin schon Entwurzelten führte er in heuchlerischen Religionen zusammen, gab ihnen Führer, die sie in Sekten zusammenschlossen – so wuchsen sie zu einer Gefahr für andere. Doch besonders die, die in Familienharmonie vereint seinen Anstürmen trotzten – ihm somit ein besonderer Dorn im Auge waren –, entzweite er, weil er die Frauen in immerfort murrende zänkische Xanthippen verwandelte, die ihre Männer von sich und ihren Familien und aus dem Haus in die Wirtshäuser trieben.
Dabei trat Ischariot stets hinter einer väterlich-wohlgesonnenen Maske auf. Er war der alte Weise, der es gut mit allen meinte, den das Leben gezeichnet und hart hatte werden lassen. Er, der immer noch ungebrochen an das Gute im Menschen und in der Welt glaubte, und der der zerrütteten Gesellschaft wieder Halt geben wollte. Er, der gütige Gelehrte, der Mentor, der Gott, dem sie vertrauen konnten.
So der »schöne« Schein, dessen er sich bediente.
Aber in ihm brodelte eine zerstörerische Seele, das Dunkle, das er am Tage geschickt und voller Heimtücke zu verbergen vermochte.
Er war ein Wandler, der wie der Mond eine helle und eine dunkle Seite hatte, von der er Letztere nicht zeigte. Er war der Verführer, der Doppelzüngige, der Verräter an der Menschheit und dem Einzelnen.
Sein Wirken war subtil und im Verborgenen. Auch seine Brüder, die er an sich gebunden und in die Welt ausgesandt hatte, waren nicht tatenlos geblieben. Er war sehr zufrieden mit ihnen, denn sie hatten seine Erwartungen bei weitem übertroffen.
Die ersten Großstädte waren bereits von dem düsteren Netz durchwirkt, das er und seine Jünger, wie er seine Brüder insgeheim nannte, errichtet hatten. Der moralische Zerfall zeigte sich deutlich. Die soziale Struktur war zerrüttet.
Ischariot hätte glücklich sein können, er hatte sein Ziel erreicht. Dennoch war er es nicht. Wie allen Seelenlosen fehlte ihm die Gabe, ein solches Gefühl zu empfinden.
* * *
Ich bin als Licht in die Welt gekommen, damit jeder, der mir vertraut, nicht im Dunkeln bleibt.
Israel besuchte in seinen stillen Stunden, wenn es ihn nach innerer Einkehr oder nach kreativer Ruhe gelüstete, immer Kosams Antiquariat, das ihm wie ein zweites Zuhause geworden war. Das Studium der alten Schriften, die der Greis immer wieder wie aus dem Nichts herbeischaffte, nahm Israel ebenso gefangen wie das Schaffen seiner eigenen literarischen Welt. Er begnügte sich nicht damit, kleine Szenarien zu formulieren, sondern schuf immer mehr ein eigenes Universum, das einem Reich des Kummers und Schmerzes glich. Dennoch war es ihm licht und wohl vertraut, erschien ihm einzig, allein und wahrhaftig. Es war wie ein dunkler und sicherer Hort, der ihm Zuflucht gewährte, wann immer er sich dorthin flüchtete.
Mehr und mehr fand er Einzug in diese fiktive Welt, bis er sich der realen beinahe völlig entzogen hatte. Es war wie die Rückkehr ins Paradies, wie das Einlaufen in den Heimathafen, nachdem man unendliche Zeit ziellos über die Weite des Meeres geirrt war.
Israel genoss es, diese Welt Satz für Satz und äußerst bedacht zu gestalten. Er schrieb nicht wie die meisten seiner Zunft und wie es dem Zeitgeist entsprach am Computer, sondern mit einem dünnen schwarzen Filzstift auf einen Block. Seine Schrift war klein, aber dennoch ausgeprägt, mit einem weichen Fluss. Israel liebte es, das unschuldige Weiß des Papiers mit Worten und folglich mit Leben zu füllen. Dabei kam es ihm nicht darauf an, seine Texte einmal gedruckt zu sehen oder seinen Namen auf einem Buchdeckel zu finden. Er schrieb vorrangig für sich, weil er die Magie liebte, die ihn stets ergriff, wenn er fabulierte, ebenso das Gefühl, sich dadurch völlig in sich zurückziehen zu können – und
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