Unter Haien - Neuhaus, N: Unter Haien
wieder wählte oder nicht. Sergio Vitali, der ihn jahrelang gedemütigt und verspottet hatte, hatte ihm alles genommen, was ihm lieb und teuer war. Er hatte nichts mehr zu verlieren.In diesem Moment erschien Polizeipräsident Harding auf dem Bildschirm und Nick stellte den Ton wieder lauter. Es ging um den Mordfall an der Wall Street und um Alex. Harding sprach mit dem ihm eigenen übertriebenen Pathos, es machte beinahe den Eindruck, als ob Alex den Präsidenten persönlich erschossen hätte. Und genau das ließ Nick plötzlich wachsam werden. Dieser St. John war einer von vielen tausend Investmentbankern an der Wall Street gewesen. Sein Tod war tragisch, aber handelte es sich wirklich um eine Bedrohung der nationalen Sicherheit, so dass man das FBI hatte einschalten müssen? Ein Mordfall war nicht Sache des Polizeipräsidenten von New York City, sondern vom Morddezernat. Nick ahnte, dass ihn sein Gefühl nicht getrogen hatte. Irgendetwas war an dieser ganzen Sache faul. Es war geradezu auffällig, dass hier aus einer Mücke ein Elefant gemacht werden sollte. Konnten das Erscheinen von Harding und de Lancie und der riesige Presserummel um den Mord an einem relativ unbedeutenden Investmentbanker bedeuten, dass tatsächlich Vitali mit der Sache zu tun hatte? Wenn es so war, dann hatte Alex Recht, und wenn Nick genau darüber nachdachte, war ihre Geschichte, die auf den ersten Blick etwas wild klang, im Grunde genommen durchaus realistisch. Die Unterlagen, die sie ihm gegeben hatten, waren, wenn sie echt waren, Sprengstoff. Und das wusste Vitali zweifellos auch.
»... wurden in einem Mülleimer blutige Handschuhe gefunden«, sagte Harding gerade, »und die Spurensicherung geht davon aus, dass die Täterin diese Handschuhe getragen hatte, als sie den Mord an ihrem ehemaligen Komplizen beging ...«
Handschuhe? Nick stutzte. De Lancie hatte vorhin etwas von Fingerabdrücken gesagt, die angeblich die Täterschaft von Alex einwandfrei bewiesen. In dieser Sekunde fiel seine Entscheidung. Er würde sich nie wieder im Spiegel ansehen können, wenn Alex wegen seiner Feigheit etwas zustoßen würde. Die Zeit der Untätigkeit war vorbei. Ob diese Entscheidung richtig war oder falsch, das würde sich herausstellen. Doch Nichtstun war in diesem Fall so schlimm, als ob er Vitali helfen würde.
***
»Die Bestätigung ist da«, Justin Savier wandte sich zu Alex um, »50 Millionen Dollar sind deinem Konto bei der Bank of America gutgeschrieben worden.«
Alex stieß einen Seufzer aus und ballte die Faust. Es war halb vier und sie war todmüde und gleichzeitig hellwach. Ihr Blick fiel auf den Fernseher, der ohne Ton lief. Die Suche nach ihr im Zusammenhang mit der Ermordung Zacks war die Hauptnachricht auf allen Sendern. Manchmal konnte sie kaum glauben, dass das alles wirklich ihr widerfuhr.
»Danke, Justin«, sagte sie, »ich weiß nicht, wie ich das alles je wiedergutmachen kann.«
»Schon gut«, Justin lächelte nur. Für ihn schien das alles nur ein aufregendes Spiel zu sein. »Wie geht es jetzt weiter?«
»Das Geld wird auf ein Nummernkonto bei der Bank Gérard Frères in Zürich überwiesen«, erwiderte Alex, »und dann wird es sich in Luft auflösen.«
Justin nickte.
»Die Haarfarbe steht dir übrigens echt gut«, er grinste.
Alex lächelte müde. Sie hatte sich die Haare dunkel getönt und blaue Kontaktlinsen eingesetzt. Justin hatte vor zwei Stunden Fotos von ihr gemacht, per Computer zu einem Bekannten geschickt und in einer Stunde würde ihr neuer amerikanischer Pass, der auf den Namen Emily Chambers lautete, fertig sein. Justins zwielichtiger Bekannter hatte 1.000 Dollar verlangt, eine nahezu lächerliche Summe, wenn die falschen Papiere ihr dazu verhelfen konnten, unbehelligt das Land zu verlassen. Um zehn ging die Maschine der Swiss Air nach Zürich, auf die Justin sie unter ihrem neuen Namen gebucht hatte. Wenn alles glattging, war sie sieben Stunden später in der Schweiz, wo Gerhard Etzbach, ein ehemaliger Kommilitone aus Stanford, der bei Gérard Frères arbeitete, auf sie wartete. Er hatte zu ihrer Erleichterung keine Sekunde gezögert, als sie ihn angerufen und um Hilfe gebeten hatte. Schon zehn Minuten später hatte er zurückgerufen und ihr die Nummer des Kontos mitgeteilt, das er auf ihren Namen eröffnet hatte.
»Ich mache mir Sorgen um Mark und Oliver«, trotz ihrer Erschöpfung konnte sie es nicht ertragen, still zu sitzen und ging in Justins Wohnung unruhig auf und ab. »Ich kann nur hoffen, dass
Weitere Kostenlose Bücher