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Unter Menschen

Unter Menschen

Titel: Unter Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabell Schmitt-Egner
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Augenwinkeln. Sam war wirklich ein besonderer Junge. Sie hatte lange mit George über ihn gesprochen und sie waren sich einig geworden. Sie sah, wie Sam den Tisch für George deckte, als sei dies ein heiliges Ritual. Sie wusste seit gestern von seinem Sirenenorgan, aber George wollte diese Entwicklung zusammen mit Jerry im Auge behalten. Sam polierte ein Glas für George und stellte es hin. Dann betrachtete er sein Gesamtwerk und verrückte das Besteck noch um Millimeter. Er sirrte.
    „So. Das darf keiner anfassen“, sagte Sam.
    „Selbstverständlich nicht“, sagte Vivian. In dem Moment klingelte es an der Tür.
    „Machst du mal auf?“, fragte sie Sam.
    Er nickte, warf einen letzten Blick auf den Tisch und ging in die Diele. Er hatte schon einige Male seit Jacks Besuch erfolgreich die Türe geöffnet. Sam drückte die Klinke nach unten und zog die Tür auf. Draußen stand ein Junge, den er nicht kannte. Er hatte braunes Haar, war dünn, hoch gewachsen und überragte Sam um fast einen Kopf.
    „Hey“, sagte der Junge. „Bist du Bill? Hab gehört, dass Laine nen Freund hat.“
    Sam starrte den Jungen an und schüttelte den Kopf.
    „Ich bin Sam“, sagte er.
    „Auch gut“, sagte der Junge. Er packte eine Tasche, die neben ihm stand, und zog sie hinter sich her in den Hausflur der Cunnings hinein. Sam war unsicher, ob er etwas dagegen unternehmen sollte, aber Vivian kam ihm bereits zu Hilfe.
    „Neill?“, fragte sie, als sie den Jungen sah. Es klang nicht übermäßig fröhlich, fand Sam.
    „Heeey!“, begrüßte sie der große Junge überschwänglich und fiel ihr um den Hals. Vivian ließ die Umarmung über sich ergehen und schob ihn dann von sich.
    „Was machst du denn hier?“, fragte sie ihn. Neill hob die Hände in einer theatralischen Geste.
    „Die große Überraschung! Ich dachte, ihr freut euch, wenn ich mal vorbei schaue. Ich wollte eigentlich noch zu Grandma und deshalb bei euch ein paar Tage Station machen. Und wer ist dieser Knabe hier?“
    Er zeigte auf Sam.
    „Sam wohnt bei uns. Er ist eine Art Pflegekind.“ Vivian legte den Arm um Sam.
    „Sam, das ist Neill, Georges Neffe. Er ist der Sohn von Rita, Georges Schwester“, erklärte sie.
    „Hallo“, sagte Sam. Neill reichte ihm die Hand.
    „Ein Pflegekind? Seit wann nehmt ihr Pflegekinder auf? Ich muss erst mal was trinken.“
    Neill ging schnurstracks Richtung Küche.
    Sam sah zu Vivian auf. „Was ist ein Pflegekind? Ich wusste gar nicht, dass ich eins bin. Ist es, weil ihr mich pflegt?“
    „Das sage ich nur für Neill“, erwiderte Vivian. „Die Wahrheit können wir ja schlecht sagen.“
    „Stimmt“, sagte Sam und irgendwie gefiel es ihm, dass sie hinter Neills Rücken ein Geheimnis hatten. Neill war ihm ein bisschen suspekt. Vivian ging zur Küche und Sam folgte ihr. Neill saß auf Georges Platz und goss sich eben Wasser in das Glas, das Sam für seinen Testvater poliert hatte. Sam gab einen erstickten Laut von sich und Vivian griff sofort ein.
    „Neill? Wir haben eine Sitzordnung. Weißt du noch? Dort sitzt George, wenn wir essen“, sagte sie.
    Neill streckte die Beine lang unter dem Tisch aus und rührte sich nicht von der Stelle.
    „Ja, stimmt, ihr habt da so altmodische Vorstellungen. Aber noch ist George ja nicht da.“
    Er setzte das Glas an die Lippen und trank. Sam bebte innerlich. Neills Lippen berührten das Glas, das er für George vorbereitet hatte. Dieser Junge verhielt sich respektlos und gefährdete sein Praktikum. Vivian bemerkte Sams Seelennöte und forderte Neill deutlich auf, sich auf einen freien Platz zu setzen. Langsam rutschte Neill erst einen Platz weiter, dann noch einen. Sam holte ein frisches Glas aus dem Schrank und begann, es zu polieren. Er musste sich beeilen. George konnte jeden Moment nach Hause kommen. Sam ärgerte sich. Neill hatte Georges Gedeck entweiht, es besaß jetzt eine andere Energie, das fühlte er. Die liebevolle Aura, die Sam geschaffen hatte, war zerstört. Sam ging zum Tisch und platzierte das neue Glas. Er versuchte, die positive Energie von vorher zu fühlen, aber es gelang ihm nicht.
    Draußen fuhr Georges Auto in die Auffahrt. Sam hob den Kopf. Er kannte das Geräusch und wusste sofort Bescheid. Mit scharfem Blick kontrollierte er noch einmal alles, dann lief er in die Diele, um George zu öffnen.
    „Da ist ja mein Praktikant!“, begrüßte George ihn und nahm Sam kurz in den Arm, der bei der Anrede „Praktikant“ heiße Wangen bekam.
    „Wem gehört das Gepäck da?“,

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