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Unter Tage

Unter Tage

Titel: Unter Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
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durch das Vergnügungsviertel angenommen hatte.
    Der Feind, dachte Shreiber, war trotzdem nicht greifbar, nicht wirklich. Was er von ihm zu sehen bekam, das waren Marionetten, hohle Puppen, die ihre undurchschaubaren Aufträge erfüllten und allein an der steinernen Blässe ihrer Augen zu erkennen waren. Überall befanden sich diese Geschöpfe – auf der Straße, in den Häusern, den Fabriken und Büros, in den Kneipen und Restaurants, den Schulen, Hospitälern … Dies, sagte sich Shreiber, dies war die Realität, mit der er sich abfinden mußte. Mit der Todesangst, diesem ständigen Begleiter seiner Stunden und Tage, diesem Schatten, der ihn unermüdlich verfolgte. Und dann diese furchtbaren Augenblicke, wenn er ein neues Werkzeug des Feindes entlarvte und scheinbar unverfängliche Szenen und Gegenstände ihr wahres, ihr monströses Gesicht zeigten.
    »Haben Sie eigentlich schon darüber nachgedacht«, fragte Flecht und nippte an seinem Glas, »warum es keinen neuen Rheinwein mehr gibt?«
    Shreiber bewegte sich unbehaglich in dem warmen Servosessel, der sich seiner Körperhaltung automatisch anpaßte und gleichsam Teil seiner selbst wurde. Ihr Tisch stand in einer Schaumstoffnische, von denen es mehrere hundert in dem verwinkelten, riesigen Innenraum des Freizeitcenters gab. Die Struktur der Wände erinnerte an Felsgestein und das Mobiliar wirkte trotz seiner Bequemlichkeit kantig und roh. Das Licht war dunkel und vermittelte zusammen mit der Abgeschlossenheit der Nische ein Gefühl der Geborgenheit, das Shreiber langsam zu genießen begann. Er schrak bei Flechts Worten auf und trank einen kleinen Schluck Weißwein. »Nein. Schmeckt Ihnen der Mosel nicht?«
    »Es liegt an der Radioaktivität«, erklärte Flecht. »Und nicht nur an der, die vor Jahren durch den GAU verursacht wurde. Längs des Rheins stehen rund drei Dutzend Atomkraftwerke, von denen fast die Hälfte auch jetzt noch in Betrieb sind. Man sagt, das Rheinwasser ist so strahlend, daß die damit bewässerten Rebstöcke nur noch radioaktive Trauben ausbrüten.« Flecht lächelte schwach. »Gewissermaßen lauter kleine Schnelle Brüter.«
    »Aber es gibt doch noch Rheinwein«, murmelte Shreiber. »Und viele Bezirke erhalten doch aus dem Fluß ihr Trinkwasser.« Er beugte sich nach vorn, griff nach seinem Glas, und der Sessel schmiegte sich gegen seinen Rücken, stützte seinen Arm, seine Hand, schien selber nach dem Glas greifen zu wollen. Von irgendwoher erklang Musik, aber sie war zu leise, um mehr wahrzunehmen als ein rhythmisches Trommeln, das mit wachsender Schnelligkeit dann auch an Lautstärke gewann und von dem Zwitschern eines Synthesizers fortgetragen wurde. Die Farbe des Lichtes wechselte.
    Rot, grün, jetzt gelb, notierte Shreiber automatisch.
    Sein Gehirn arbeitete trotz der oberflächlichen Ruhe und Entspanntheit noch immer wie ein geschäftiges Uhrwerk, wie ein selbständiger organischer Computer, der alle Informationen begierig verschlang und sie auswertete und furchtsam auf ein Zeichen des Feindes wartete.
    »Für meine Begriffe«, sagte Shreiber unkonzentriert, »schmeckt Mosel im allgemeinen und dieser Mosel im besonderen ausgezeichnet. Und es ist ja nicht so, daß es keinen Rheinwein mehr gibt.« Er wies auf die Getränkekarte. »Da sind einige aufgeführt, und ich meine, wir sollten ruhig eine Flasche probieren, um einen Vergleich anstellen zu können. Also, wenn Sie mich fragen, dann ist Moselwein besser. Obwohl ein guter Rheinhessen … Nun ja, es gibt verschiedene Arten des Genusses. Und verschiedene Geschmäcker.«
    Gott, dachte Shreiber plötzlich, was für ein banales Zeug. Mit der Zeit war er geschwätzig geworden. Wenn er redete, entfalteten die Worte ein Eigenleben und spülten sämtliche Sperren hinweg.
    »Natürlich sind nicht alle Anbaugebiete betroffen«, gab Flecht zu. »Einige Sorten sollen sogar noch ganz passabel sein. Allerdings gibt es böse Zungen, die behaupten, diese Weine würden strahlend gute Laune bringen.« Flecht lächelte sein schwaches, unverbindliches Lächeln.
    »Ach ja?« Shreiber öffnete den Kragenknopf seines Hemdes.
    »Wir können von Glück sagen, daß wir in den letzten Jahren so verregnete Sommer hatten.« Flecht setzte eine Zigarette in Brand. »Aber ich frage mich wirklich, was geschehen wird, wenn die Talsperren erst einmal leer sind. Ob dann der gute alte Rhein dann wieder aus dem Wasserhahn tropft? Unverdünnt? Immerhin würde dies den Abwasch des schmutzigen Geschirrs wesentlich

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