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Untergang

Untergang

Titel: Untergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jérôme Ferrari , Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
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Libero zählte sie und lächelte nochmals.
    »Also kaum was los gewesen.«
    Nein, kaum was los gewesen, bis auf zwei Typen aus Zonza, die auf einen Drink für zwei Minuten reingekommen wären auf dem Weg nach Hause, sie habe gewartet, habe dann gegen fünf Uhr abgeschlossen, die Nacht sei lang gewesen, es könne ja nicht immer laufen, das mache aber auch nichts, und Libero fing an zu brüllen, ohne Rücksicht auf die Gäste, die sich erschreckten, »Bist du bald fertig mit deinem Scheiß?«, und er brüllte, dass er wisse, dass Gäste dagewesen waren, aber Annie antwortete: »Nein! Das stimmt nicht! Nein!«, mit der bockigen Schnute eines Kindes, und er ging auf sie zu, die Fäuste geballt, und beschrieb jeden einzelnen der Jugendlichen und listete auf, was sie getrunken hatten, und nannte ihr die Summe, die sie bezahlt hatten, und häufte so gnadenlos Beweis auf Beweis, bis sie schließlich so hilflos war, dass sie unter Tränen zusammenbrach und um Verzeihung bat. Libero schwieg. Matthieu dachte erleichtert, die Sache sei damit erledigt, Annie habe sich einen Anschiss sonder Güte eingefangen, Strafandrohungen bei der ersten Dummheit, das Geld würde zurückgegeben und alles wäre wieder wie vorher, sie sagte es selbst, »Ich habe Scheiße gebaut. Ich werde dir alles zurückgeben. Ich mach das nie mehr. Ich schwöre es dir.«
    Aber Liberos Schweigen war nicht das des Verzeihens und er dachte nicht daran, Annie zu gestatten, ihre Schuld zu begleichen.
    »Ich will nicht, dass du mir was zurückzahlst. Behalte, was du genommen hast. Ich will, dass du hoch in die Wohnung gehst, sofort, dass du deinen Koffer packst und dass du dich von hier verpisst. Ich will dich nicht mehr sehen. Verpiss dich von hier! Jetzt!«
    Annie flehte ihn an, sie schwor erneut unter Schluchzern, die Gäste erhoben sich einer nach dem anderen und verließen den Raum, um nicht länger Zeuge zu sein dessen, was sich da grade abspielte, und Annie flehte noch immer, sie habe Scheiß gebaut, habe aber doch wohl auch gute Arbeit geleistet, er könne das nicht machen, wohin sollte sie gehen?, er wisse gar nicht, was das hieße, sie sei dreiundvierzig, er wisse gar nicht, was das hieße, er könne sie nicht einfach so wegjagen wie einen Hund, und sie nannte erneut ihr Alter, sie war inzwischen auf den Knien, sie hob die Hände zu Libero auf, der regungslos blieb und sie mit hasserfüllten Blicken musterte, dreiundvierzig, er wisse gar nicht, was das hieße, sie würde alles machen, was er verlange, alles, und je heftiger sie weinte, umso unnachgiebiger wurde Libero unter seinem Panzer aus Hass, als materialisierte diese zu Boden geworfene Frau in ihrem zitternden Fleisch das Absolute eines Bösen, von dem es die Welt um jeden Preis zu reinigen galt.
    »Ich bin in einer Stunde zurück, und in einer Stunde bist du nicht mehr hier.«
    Als er weg war, erhob sie sich schwankend und Rym nahm sie unterm Arm, um ihr zu helfen, hoch in die Wohnung zu gehen. Matthieu wagte es nicht, sie anzusehen, ein schmerzhaftes Gewicht drückte auf seine Brust, das er nicht einschätzen und sich auch nicht erklären konnte, er wartete darauf, dass es Nacht wurde und das Leben wieder einsetzte, ohne weitere Überraschungen, denn er war wieder zu einem Kleinkind geworden, das in der wiederkehrenden Wiederholung des Gleichen Sicherheit findet, fernab von formlosen Gedanken, deren Strudel seinen Geist unangenehm in Unruhe versetzten, bevor sie dann wie Blasen an der Oberfläche eines Sumpfgebietes aufplatzten, er wartete auf den Wohlgeschmack des Alkohols, diese anhaltende Gespanntheit, die ihn wach hielt, die Nerven blank, auf Lauer gelegt ohne Objekt, und er wartete auf den Moment des Einschlafens, Izaskuns Haut und der Blick von Agnès, trotz der Müdigkeit, trotz der säuerlichen Schwerfälligkeit des von Champagner, Gin und Tabak getränkten Atems, des dickflüssigen Speichels, der an fleckigen Zähnen haftet, der Schlaf, der käme später dann, trotz der schweren Augenlider, trotz der Befremdlichkeit dieses Ansturms auf einen Körper so sehr erschöpft wie der seine, der eben diese Giftstoffe in die feuchten Laken ausschwitzte, und nichts sollte die Augen über seinem traumlosen Schlaf schließen, bevor es nicht vonstattengegangen wäre, das nächtliche, vom Gesetz dieser Welt vorgeschriebene Ritual, das nicht das Gesetz des Begehrens war, denn das Begehren zählte nicht, nicht mehr als die Müdigkeit oder die Vulgarität der Wollust, und es handelte sich für jeden von

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