Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Untergang

Untergang

Titel: Untergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jérôme Ferrari , Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
Vom Netzwerk:
nur darum, mit widerlichem Wohlbehagen eine Macht auszuüben, die sich in nichts anderem äußerte als in den Launen ihrer Willkür, die Macht der Ärmlichen und Schwachen, deren perfekter Vertreter dieser Typ im kurzärmeligen Hemd war, mit dem idiotischen und süffisanten Lächeln, das er ihr aus der uneinnehmbaren Zwingburg seiner Dummheit heraus schenkte. Im Büro nebenan drückte eine alte Frau im Hidschab ein kleines Mädchen an sich und schrumpfte unter einer Sintflut verächtlicher Vorwürfe zusammen, ihre Unterlagen seien nicht bearbeitet und nicht zu bearbeiten, sie seien schmutzig, unlesbar, gut für den Müll, und Aurélie setzte sich in den Kopf, mit den harmlosen Waffen der Vernunft sinnlos zu kämpfen, Massinissa sei Doktor der Archäologie, er habe einen Posten an der Universität von Algier inne, ob man denn glaube, dass seine Situation derart unbefriedigend sei, dass er davon träume, sie aufzugeben, um die Ehre zu besitzen, auf einer französischen Baustelle Schwarzarbeit zu leisten? Sie selbst sei Dozentin, ob man sich vorstelle, dass sie ihre Freizeit damit verbringe, illegale Einwanderungsrouten einzurichten? Es handele sich nur um einige Tage Urlaub, an deren Ende Massinissa ganz brav nach Algerien zurückkehren werde, sie selbst würde dafür einstehen, aber der Typ im kurzärmeligen Hemd blieb unbeirrbar und sie hatte Lust, ihm die Schere in den Arm zu rammen, die er auf seiner ledernen Schreibunterlage liegen hatte. Sie verließ das Konsulat in einem Zustand unbeschreiblicher Wut, sie hatte Lust, dem Konsul zu schreiben, dem Botschafter, dem Präsidenten, um zu sagen, dass sie sich schäme, Französin zu sein, und dass die Haltung der Angestellten, mit denen sie es zu tun hatte, diese gemeinsam mit dem Land entehrten, das sie eigentlich repräsentieren sollten, und sie entschloss sich, allein ins Dorf zu reisen, zumindest für eine Woche, bevor sie Massinissa im August nach Algier folgen würde. Sie musste ihre Mutter sehen, und vor allem ihren Großvater. Sie konnte ihn nicht im Stich lassen. Sie war sich gewiss, so sehr sie auch unter dem Tod ihres Vaters litt, dass Marcel weitaus mehr leiden musste, weit mehr sogar, als sie sich vorzustellen vermochte, denn es lag in der Ordnung der Dinge, dass Kinder ihre Eltern begraben, die unannehmbare Verkehrung dieser Ordnung jedoch fügte dem Schmerz den Skandal hinzu, sie wollte ihre abendlichen Spaziergänge mit ihm wieder aufnehmen, bei denen sie ihn gern am Arm hielt, und dies war es, was sie voller Liebe tat, bewegt davon, zu spüren, wie er sich auf sie stützte, so zerbrechlich und unvorstellbar alt. Als er sich schlafen gelegt hatte, ging sie in der Bar etwas trinken, aus Mangel an anderen Ablenkungen. Der junge Gitarrist hatte Fortschritte gemacht, seine Stimmtechnik war besser geworden, aber er hatte einen sündhaften Geschmack für schnulzige Balladen beibehalten, vorzugsweise italienische, die er mit geschlossenen Augen sang, als wollte er den beachtlichen Strom seiner Gefühle unterdrücken, bevor er dann die Beifallsbekundungen entgegennahm mit der bescheidenen Geste dessen, der nicht daran zweifelt, sie ganz und gar verdient zu haben, er bewegte sich lässig auf den Tresen zu und war sich der weiblichen Blicke, die ihm folgten, nur allzu sehr bewusst, er hielt Virgile Ordioni zum Besten, der in seiner wehrlosen Unschuld lachte, und Aurélie verspürte manchmal die Lust, ihn mit aller Kraft zu ohrfeigen, als hätte die todbringende Atmosphäre, die von nun an in der Bar herrschte, auch sie schon verseucht. Denn die Atmosphäre war wirklich todbringend geworden, es lag in der Luft der Geruch nach Gewitter, vom Tresen aus warfen die Männer triefend begehrliche Blicke auf die Dekolletés der Touristinnen, auf ihre von der Sonne erröteten Schenkel, ohne sich um die Anwesenheit von Ehemännern zu scheren, die gezwungen waren, die wie Böen aufkommenden Runden zu akzeptieren, welche ihnen nicht aus Freundlichkeit dargeboten wurden, sondern mit dem erwiesenen Ziel, sie sich totsaufen zu lassen, Libero war gezwungen, ununterbrochen einzugreifen, mit der ganzen Kraft seiner jungen Autorität, das konnte fast körperlich werden, und Matthieu schien von den Dingen überrollt. Aurélie fühlte sich ihres Bruders wegen traurig, er wirkte beinahe wie ein Kind, und im Grunde genommen war er auch nur ein Kind, nervend und verletzlich, das sich vor den Androhungen der Albträume einzig zu schützen vermochte, indem es in die unwirkliche Welt

Weitere Kostenlose Bücher