Untergang
pueriler Träume floh, in eine Welt aus Süßigkeiten und unbezwingbaren Helden. Am Abend ihrer Abreise lernte Aurélie Judith Haller kennen, die Matthieu die Ferien über eingeladen hatte und die er empfing, während er, zur Sperrstunde der Bar, vor ihren Augen die Pistole in seinen Gürtel gleiten ließ, und er interpretierte offensichtlich den bestürzten Blick der jungen Frau als eine bewundernde und schweigsame Hommage an seine Männlichkeit. Überglücklich mit seiner Rolle als Barbesitzer bot er Aurélie ein Glas an und auch Judith lud er ein, die noch nicht durch war mit ihrem Leid, denn es war ihr gegeben, noch diesen Abend einem Schauspiel beizuwohnen von besonders hoher Intensität sowohl an Lautstärke als auch an Tränenfluss. Judith trank ihr Glas und redete mit Aurélie, als das Gebrüll eines verletzten Tieres sie auffahren ließ. Auf der Terrasse schrie und schluchzte, den Kopf in ihre Hände gegraben, Virginie Susini und kippte dabei immer wieder vor und zurück und ließ niemanden an sich heran. Offenbar hatte Bernard Gratas kurz zuvor in einer unbegreiflichen Aufwallung der Würde zum ersten Mal verweigert, zum Decken zitiert zu werden, und überdies mit äußerster Vornehmheit verlangt, fortan nicht mehr wie ein Eber behandelt zu werden, und Virginie, die zunächst ohne jegliche Reaktion geblieben war, war plötzlich in eine hysterische Krise gestürzt, die des großen Hörsaals der Salpêtrière würdig gewesen wäre, es fehlte nichts, weder Spasmen noch Tetanie, nicht einmal ein achtsames und zufriedenes Publikum, und sie schrie, dass sie sterben wolle, dass sie bereits ein Körper ohne Leben sei, und sie rief den Vornamen von Gratas aus, sie brüllte, dass sie ihn brauche, Neuigkeit ersten Ranges, wenn auch sehr unerwartet, und also widmete der sein ganzes dramatisches Interesse dem Schauspiel, oh, sie brauche ihn, sie begehre ihn, warum nur wolle er nichts von ihr?, sie sei schmutzig, sie sei hässlich, sie wolle sterben, und als Gratas, überrascht, aber ergriffen, sich ihr näherte und ihre Hand berührte, da sprang sie ihm an den Hals, um ihn mit aufgerissenem Mund zu küssen, ohne aufzuhören zu weinen, und er erwiderte ihren Kuss mit so viel Ungestüm, dass Libero sie trocken auffordern musste, doch woanders als vor seiner Bar herumzuhuren. Letzte Gäste tauschten noch gehässige Kommentare aus, Virginie sei eine Bekloppte und Gratas ein gallisches Weichei, dies sei nun erwiesen, und alle lachten darüber, nur Judith, die lachte nicht. Aurélie versuchte sie zu beschwichtigen.
»Das ist nicht jeden Abend so, glaube ich.«
Am nächsten Tag küsste Aurélie zum Abschied ihre Mutter und ihren Großvater und versprach, ihn bald wieder besuchen zu kommen, sie war traurig, ihn zurückzulassen, aber sie wollte ein wenig reine Luft atmen und Massinissa wiedersehen. Sie empfahl Matthieu, auf sich zu achten und einen Blick auf Judith zu haben, die sie, schöne Ferien wünschend, ihrem ungewissen Schicksal überließ.
Er konnte sich nicht mehr erinnern, warum er sie inmitten der Nacht angerufen hatte, um sie einzuladen, zu ihm zu kommen. Vielleicht hatte er sich beweisen wollen, dass er sich weit genug von der Welt entfernt hatte, für die sie stand, um sie nicht mehr fürchten und auch nicht mehr fliehen zu müssen, es gab keine zwei Welten mehr, dafür aber eine einzige, die in ihrer selbstherrlichen Pracht fortbestand, und dies war die einzige Welt, der Matthieu angehörte. Er hatte keine Angst mehr, dass Judith ihn mit sich reißen oder die schmerzhaften Folgen einer früheren Abspaltung in ihm wiederbeleben würde, er wollte sich ihr zeigen, so wie er war, wie er sich immer schon zu sein erträumte, aber sie nahm es nicht wahr. Sie redete mit ihm, als habe er sich nicht verändert, knüpfte an frühere Unterhaltungen an, deren Sinn er nicht mehr verstand, es war, als unterhielte er sich mit einem Phantom. Sie erzählte ausführlich vom Verlauf ihrer mündlichen Prüfungen beim Examen, vom Klang der Glocke im Hörsaal Descartes, von der altvertrauten Sorbonne, plötzlich verwandelt in einen heiligen Tempel mit seinen Priestern und Opfern, seiner Grausamkeit, seinen Märtyrern und unwahrscheinlichen Wundern, sie fürchtete sich vor der Deutschprüfung, sie hatte gebetet, dass es Schopenhauer sei, und wäre beinahe ohnmächtig geworden, als sie den Namen Frege auf dem Papier las, das sie als Los gezogen hatte, und da sei die Gnade über sie gekommen, ihr wäre plötzlich alles vertraut
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