Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Untergang

Untergang

Titel: Untergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jérôme Ferrari , Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
Vom Netzwerk:
fest, dass Libero diese glückliche Verfassung nicht teilte, er ging nervös hin und her, kapselte sich auf der Terrasse ab, um mehrmals mit Vincent Leandri zu tuscheln, und maulte die Mädchen an, die noch immer dümmlich rumheulten, anstatt ihre Arbeit zu beenden und den Boden zu reinigen und dann endlich in ihren Betten weiterzuheulen oder wo immer es ihnen auch beliebte. Als die Mädchen weg waren, schlug Annie vor, noch zu bleiben, um eventuelle Nachtschwärmer zu bewirten. Libero warf ihr vernichtende Blicke zu.
    »Nein! Du ziehst auch Leine. Du erholst dich besser mal, du siehst beschissen aus.«
    Sie öffnete ihren Mund, um etwas zu erwidern, besann sich aber und ging wortlos weg und ließ Libero allein zurück mit Vincent Leandri und Matthieu, der völlig verloren wirkte.
    »Liegt es an Sarahs Abreise, dass du so ausrastest?«
    »Nein. An Annie. Sie bestiehlt uns, die Schlampe, ich bin mir sicher.« Seit Saisonbeginn hatte Annie die Angewohnheit, nach der Sperrstunde, die ungerechterweise durch willkürliche Verordnung des Präfekten auf drei Uhr morgens festgelegt worden war, noch in der Bar zu bleiben. Wenn Libero und Matthieu schlafen gingen, samt Inhalt ihrer Kasse und mit der Pistole im Gürtel, blieb sie heldenhaft auf ihrem Hocker hinter dem Tresen sitzen, bereit, die letzten Trunkenbolde zu bedienen, die die Gegend durchzogen auf der Suche nach einem anheimelnden Ort, an dem sie ihre Reise Richtung Suffkoma vollenden konnten. Im sehr ungewöhnlichen Fall einer Stippvisite der Gesetzeshüter konnte sie so vortäuschen, dass die Bar geschlossen habe, die Kasse abgerechnet sei und sie mit einigen engen Freunden die Freuden eines privaten Abends genoss. Sie bonierte erst im letzten Augenblick, wenn man sichergehen konnte, dass nirgendwo in der Umgebung irgendeine Schirmmütze umherstreifte. Diese List, an der man den zivilen Widerstand gegen die Ungerechtigkeit des Staates nur begrüßen konnte, machte zunächst alle glücklich: Außer sich vor Dankbarkeit konnten die herumirrenden Trunkenbolde von nun an mit einem Quartier rechnen, Annie wurde ihre Selbstlosigkeit mit einem großzügigen Trinkgeld, das zum Verdienst der Überstunden hinzukam, vergolten und die Umsatzzahlen der Bar waren angestiegen. Natürlich kam es vor, dass Annie vergeblich auf Gäste wartete, und dies geschah sogar häufiger und häufiger, was Libero erst in Alarmbereitschaft versetzte, als Vincent Leandri ihm rein zufällig erzählte, dass Freunde aus Ajaccio auf ein Glas vorbeigekommen seien nach der Disko letzten Samstag, wohingegen Annie ganz klar gesagt hatte, dass in ebendieser Nacht niemand aufgetaucht sei. Libero fragte Vincent Leandri, ob er sich auch nicht im Datum irrte und was seine Freunde getrunken hätten und wie viel, sodass Vincent sie anrief, um sie zu bitten, die Stimmigkeit seiner Angaben zu bestätigen. Libero war stocksauer und nichts schien ihn beruhigen zu können, Vincent wies ihn mit einem von Weisheit geprägten Fatalismus darauf hin, dass Kellnerinnen sich seit eh und je aus der Kasse bedienten, das sei ein Naturgesetz, er mahnte ihn vergeblich zur Nachsicht, Matthieu wiederholte ihm gegenüber mehrmals, dass das so schlimm nicht sei, aber er hörte nicht auf sie, er wollte Annie in die Enge treiben, indem er sie auf frischer Tat ertappte, das sei die einzige Möglichkeit, ansonsten würde sie alles in Abrede stellen, diese unglaubliche Nutte, dieses Luder, dieses gemeine Miststück, und er beruhigte sich erst, als er einen Weg gefunden hatte, die ›frische Tat‹ zu organisieren, nach der seine Rache dürstete. Er trommelte im Dorf eine Gruppe Jugendlicher zusammen, von denen er sicherstellte, dass Annie keinen einzigen kannte, er gab ihnen Geld, das sie in der Bar bis auf den letzten Cent vertrinken sollten in der darauffolgenden Nacht. Sie sollten so tun, als ob sie auf Durchreise wären in der Gegend, aber nicht vorhätten, auch nur noch einmal wiederzukommen, und sie sollten vor allem darauf achten, alles, was sie konsumierten, aufzuschreiben und Libero später dann die genaue Abrechnung ihres Besäufnisses geben, eine Aufgabe, die sie mit einwandfreier Loyalität erfüllten. Zwei Tage darauf, als Annie ihren Dienst am Nachmittag antrat, erwartete Libero sie dann mit einem breiten Lächeln in der Bar.
    »Und, hattest du letzte Nacht ein paar Gäste?«
    Sein Lächeln verflüchtigte sich für einen Moment, als Annie ihm »Ja« zur Antwort gab und in Kassenbons gewickelte Geldscheine überreichte.

Weitere Kostenlose Bücher