Untergang
lassen, den Virgile Ordioni, Vincent Leandri und vier von Liberos Brüdern trugen, und Matthieu folgte ihm, am Arm seiner Mutter, die ihn schließlich erreicht hatte, an der Seite seines Großvaters und auch von Aurélie, und als sie die Kirche betraten, schloss er die Augen unter der köstlichen Liebkosung der kühlen Luft, während hinter dem Altar Pierre-Emmanuel Colonna und die Freunde aus Corte das Requiem sangen. Die gesamte Zeremonie über machte sich Matthieu auf die Suche nach seinem eigenen Kummer, fand ihn aber nirgends, er betrachtete das fein gearbeitete Holz des Sarges, das mumienhafte Gesicht seines Großvaters, er hörte das miteinander vermengte Schluchzen seiner Mutter und seiner Schwester und nichts geschah, er konnte noch so sehr die Augen schließen und sich zu traurigen Gedanken zwingen, sein Kummer antwortete auf keinen einzigen seiner Rufe, er fühlte ihn manchmal ganz nah vorbeiziehen, seine Lippe erzitterte davon leicht, und in dem Augenblick, da er dachte, die Tränen würden endlich zu fließen beginnen, versiegten mit einem Male alle feuchten Quellen seines Körpers und er wurde wieder gleichmütig und trocken, aufrecht stehend vor dem Altar wie ein toter Baum. Der Pfarrer schwenkte ein letztes Mal das Weihrauchfass um den Sarg herum, flehende Stimmen erhoben sich in der Kirche,
Rette mich, Herr, vor dem ewigen Tod
,
und der Sarg setzte sich langsam in Bewegung zum Ausgang hin, Matthieu folgte ihm und wusste, dass er das letzte Mal hinter seinem Vater herging, aber er weinte nicht, er gab dem Kruzifix einen Kuss mit einer Pietät, die er gern nicht geheuchelt hätte, aber weder sein Vater noch Gott erwarteten ihn am Kreuze und er fühlte nichts anderes als den Kontakt mit dem kalten Metall an seinen Lippen. Die Türen des Leichenwagens schlossen sich wieder. Claudie murmelte unter Tränen den Namen ihres Mannes, der zugleich auch der Name war ihres Bruders in Kindertagen, und Jacques Antonetti begann seinen Weg hin zum Grab und er war allein, wie es das Gesetz dieses Dorfes will, denn die Fremden, die nah mit ihm dahingingen im Rhythmus seines Schweigens, waren nicht der Rede wert. Die Beileidsbekundungen waren endlos. Matthieu antwortete mechanisch »Danke« und bei bekannten Gesichtern deutete er ein Lächeln an. Virginie Susini strahlte geradezu freudig und sie schloss ihn so eng in die Arme, dass er das Schlagen ihres todessatten Herzens fühlen konnte. Die Kellnerinnen saßen auf einer Mauer und warteten, dass sich die Menge verstreute, um sich dann ihrerseits zu nähern, und Matthieu musste sich zügeln, Izaskun nicht auf den Mund zu küssen. Nach einer halben Stunde waren gut dreißig Personen zurückgeblieben, die sich bei den Antonettis einfanden, wo ihnen Liberos Schwestern Kaffee servierten, Eau de vie und Gebäck. Die Unterhaltungen begannen mit gesenkter Stimme, wurden dann lauter und lauter, man hörte ein leises Lachen, und bald schon war das Leben wieder zurück, unerbittlich und heiter, wie es immer geschieht, auch wenn die Toten es nicht wissen dürfen. Matthieu trat in den Garten hinaus, mit einem kleinen Glas Eau de vie. In einer Ecke pinkelte Virgile Ordioni gegen einen Stapel Holzscheite. Über seine Schulter richtete er auf Matthieu seine großen geröteten Augen. Er war völlig verlegen.
»Ich wollte eben nicht fragen, wo die Toiletten sind. Deiner Mutter zuliebe, verstehst du.«
Matthieu gab ihm seinen Segen mit einem Augenzwinkern. Er fürchtete den unvermeidlichen Moment, da alle fort sein würden. Er hatte Angst davor, sich von Angesicht zu Angesicht mit den Seinen allein wiederzufinden, mit denen er nicht einmal deren Kummer teilen konnte, da der seine unauffindbar blieb. Bei Sonnenuntergang würden sie alle gemeinsam zum Friedhof gehen, der Grabstein würde dann bereits einzementiert sein, sie würden die Kränze und Blumengebinde ordnen und dies wäre alles, was Matthieu sehen würde, Blumen und den Stein, nichts anderes, keine einzige Spur des Vaters, den er verloren hatte, nicht einmal eine Spur seiner Abwesenheit. Vielleicht hätte er weinen können, wenn er die Sprache der Symbole hätte verstehen oder zumindest seine Vorstellungskraft hätte bemühen können, aber er verstand nichts, er hatte keine Vorstellungskraft mehr, sein Geist versteifte sich auf die konkrete Gegenwart der Dinge, die ihn umgaben, jenseits von ihnen war nichts mehr. Matthieu schaute aufs Meer und er wusste, dass seine Unempfindlichkeit nichts anderes war als das unwiderlegbare
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