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Untergang

Untergang

Titel: Untergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jérôme Ferrari , Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
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ihnen nur darum, seinen Platz in dieser Choreographie einzunehmen, die allmorgendlich ihr Aufwachen rechtfertigte und sie so spät in der Nacht noch wach hielt. Jede Welt ruht so auf den nichtigen Zentren ihrer Schwerkraft, an denen stillschweigend ihr ganzes Gleichgewicht hängt, und während Rym sich anstelle von Annie hinterm Tresen einrichtete, erfreute sich Matthieu daran, dass die Stabilität dieses Gleichgewichts am Ende doch nicht gefährdet worden war, er fühlte die feinen Vibrationen des Bodens nicht, über den ein Netz feinster Risse lief wie Spinnweben, er nahm den furchtsamen Vorbehalt nicht wahr, mit dem sich die Mädchen von nun an Libero näherten, obgleich er doch wieder so entspannt und lächelnd war wie zuvor, alles lief bestens, Pierre-Emmanuel schien sich von Annies Verschwinden nicht alarmieren zu lassen, er hatte ein baskisches Lied gelernt, um Izaskun eine Freude zu bereiten, und Matthieu sah die dunklen Blicke nicht, die er über sein Mikro auf Libero richtete, Izaskun gab zu, dass sie kein Wort Baskisch verstand, sie war in Saragossa aufgewachsen, sie lächelte, alles lief bestens, Matthieu trank und bemerkte nichts, wie aber hätte er denn auch nur etwas, ganz gleich was, bemerken können, er, der noch immer nicht imstande war zu glauben, dass sein Vater gestorben war? Um zwei Uhr schob Pierre-Emmanuel den Ständer seines Mikros zusammen, rollte die Kabel auf und packte seine Gitarre ein. Libero gab ihm seine Gage.
    »Du hättest mir was sagen können, wegen Annie, meinst du nicht?« Libero spannte sich wie unter Einwirkung eines Elektroschocks.
    »Kümmere dich um deinen Scheiß, du dumme Sau, hast du verstanden? Kümmere dich um deinen Scheiß!«
    Pierre-Emmanuel blieb einen Moment lang sprachlos und steckte das Geld in seine Tasche und ging seine Gitarre holen, »Das war das letzte Mal, dass du in diesem Ton mit mir redest!«
    »Ich rede mit dir, wie ich will.«
    Pierre-Emmanuel ging, den Kopf gesenkt, und die Bar erstarrte in Stille. Matthieu spürte erneut das rätselhafte Gewicht von seiner Brust hinunter zum Bauch dringen und fragte Libero, was denn los sei. Libero strahlte ihn mit einem Lächeln an und füllte ihre Gläser auf.
    »Mit diesen Arschlöchern ist das nun mal so. Wenn du freundlich bist, ficken sie dich in den Arsch, sie sind zu sehr Arschlöcher, Freundlichkeit, Schwäche, da machen die keinen Unterschied, das ist denen zu kompliziert, man muss mit ihnen in der Sprache reden, die sie verstehen, und das, glaube mir, verstehen die hervorragend.«
    Matthieu stimmte zu und setzte sich mit seinem Glas nach draußen. Er schaute voller Melancholie in die Nacht und dachte zum ersten Mal darüber nach, dass seine Augen möglicherweise nicht das Gleiche sahen wie diejenigen seines Freundes aus Kindertagen. Er zog Judiths Brief aus der Tasche, las ihn ein zweites Mal und griff, ohne die Uhrzeit zu bedenken, nach seinem Telefon.

Nach drei Stunden endloser Wartezeit, die ihren Zorn nicht hatten erweichen können, wurde Aurélie von einem Angestellten des Konsulats empfangen. Die Grabungen waren eingestellt worden, sie hatten die Basilika des Augustinus nicht gefunden, aber so vieles blieb zu tun, sie würden sie eines Tages finden, und der Marmor der Apsis, in der der Bischof von Hippo Regius, von betenden Geistlichen umsorgt, mit dem Tode rang, würde erneut im Licht der Sonne erstrahlen. Aurélie hatte Massinissa Guermat eingeladen, für zwei Wochen mit ihr ins Dorf zu kommen, und eben erst hatte er ihr mitgeteilt, dass man ihm das Visum verweigert hat. Vor den mit Stacheldraht bedeckten Mauern der Botschaft erstreckte sich eine Schlange von dreihundert Metern, in der Männer und Frauen allen Alters stoisch darauf warteten, mitgeteilt zu bekommen, dass die Unterlagen, die sie in Händen hielten, nicht angenommen werden konnten, da ein Papier fehle, das man von ihnen nie verlangt hatte. Aurélie ging direkt zur Sicherheitsschleuse und machte ihren Status als Französin geltend, damit man sie einließe, aber die Empfangsdame des Konsulats ließ sie dieses Privileg mit der Bitte bezahlen, doch auf einem Sessel Platz nehmen zu wollen, wo sie sie mit aller Sorgfalt vergaß. Der Angestellte trug ein kurzärmeliges gestreiftes Hemd und eine scheußliche Krawatte, und Aurélie verstand nach wenigen Minuten, dass sie die Erklärungen, derentwegen sie gekommen war, nicht erhalten würde, niemand würde einwilligen, Massinissas Unterlagen abermals zu prüfen, denn es handelte sich hierbei

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