Untergang
Symptom seiner Dummheit, er war ein Vieh, das das unveränderliche und beschränkte Glück der Viecher genoss, und auf seine Schulter legte sich eine Hand, in der er diejenige von Izaskun wiederzuerkennen glaubte, die ihm in den Garten gefolgt wäre, wohl, weil sie darunter gelitten haben musste, ihn so einsam zu sehen, und wohl auch, weil er ihr gefehlt haben musste. Er drehte sich um und stand Aurélie gegenüber.
»Wie geht es dir, Matthieu?«
Sie betrachtete ihn ohne Wut, aber er senkte seine Augen vor ihr. »Mir geht es gut. Ich bin nicht einmal traurig.«
Sie näherte sich ihm und schloss ihn in ihre Arme, »Aber natürlich bist du das, du bist traurig, sehr traurig«, und der Kummer, den er den ganzen Nachmittag über vergeblich gejagt hatte, war da, eingebunden in die Worte seiner Schwester, fern der unnützen Stütze von Symbolen und der Vorstellungskraft, er stürzte auf Matthieu ein, der gleich einem Kinde in den Armen Aurélies zu weinen begann. Sie streichelte ihm das Haar, küsste ihm die Stirn und nötigte ihn, seine Augen auf sie zu richten.
»Ich weiß sehr wohl, dass du traurig bist. Aber es nützt nichts, verstehst du. Deine Traurigkeit nützt nichts und niemandem was. Es ist zu spät.«
Am fünfzehnten Juli erhielt er einen Brief von Judith Haller, die ihm ihren erfolgreichen Abschluss beim Staatsexamen verkündete, sie wolle ihre Freude mit ihm teilen, selbst von fern, sie erwarte keine Antwort, sie hoffe, dass er glücklich sei – war er glücklich?, aber Matthieu stellte sich diese Frage nicht, er betrachtete den Brief, als wäre er ihm von einer fernen und dennoch merkwürdig vertrauten Galaxie zugeflogen, deren Einstrahlungen in ihm konfuse Widerklänge eines anderen Lebens wachriefen. Er steckte den Brief in seine Tasche, wo er ihn vergaß, um Champagnerflaschen zu öffnen zu Ehren der Abreise von Sarah. Sie hatte sich verliebt in einen Pferdezüchter, der ihr kürzlich erst vorgeschlagen hatte, sich mit ihm irgendwo am Taravo niederzulassen. Er war ein gut vierzigjähriger Mann, der den ganzen Winter über nur mit auffälliger Nüchternheit auf sich aufmerksam gemacht hatte und mit der Ausdauer, die er an den Tag gelegt hatte, um wieder und wieder die Kilometer zu überwinden, die die Bar von seinem verlorenen Dorf am Ende der Welt trennten. Er setzte sich an eine Ecke des Tresens, vor ihm ein Glas Sprudel, offenkundig erfasst von einer rätselhaften Meditation. Er schaute die Kellnerinnen nicht an, versuchte nicht, ihre Hintern zu berühren oder sie zum Lachen zu bringen, ging sogar so weit, die Willkommenszärtlichkeit von Annie abzuwehren, und es war unmöglich zu ergründen, zu welchem Zeitpunkt und mit welchen Mitteln er eine Romanze mit Sarah hatte knüpfen können, die nun an seinem Hals hing und ihn mit Küssen überschüttete und ihn nötigte, Champagner zu trinken. Pierre-Emmanuel sang Liebeslieder mit leicht komischer Untermalung, er stellte seine Gitarre zur Seite, um sich was auftischen zu lassen und um Virgile Ordionis schütteres Haar zu zerzausen und ihn auf das glückliche Pärchen zu verweisen: »Siehst du, Virgile, vielleicht findest du am Ende ja auch noch eine Kleine!«
Und Virgile errötete und lachte und sagte: »Ja, ja! Ich auch, mag sein, warum nicht?«, und Pierre-Emmanuel zog ihn am Ohr und rief: »Ah! Du Hund! Du Schwein! Mädchen, da hast du Bock drauf, was. Du bist mir ’ne Nummer, nee!«, und er griff wieder nach seiner Gitarre, um voller Tremolos die Geschichte einer jungen Frau zu erzählen, die so schön war, dass ihre Patentante nur eine Fee gewesen sein konnte. Um zwei Uhr morgens sammelte Sarah ihre Sachen zusammen, verstaute sie in dem geräumigen, schlammverschmierten Allrad ihres neuen Gefährten und begann, sich zu verabschieden. Rym schloss sie in die Arme und weinte, sie musste ihr versprechen, von ihrem Glück zu berichten, was Sarah tat und ihrerseits einige Tränen vergoss, als sie jeden einzelnen derjenigen umarmte, die sie verließ, sie sagte zu Matthieu und Libero, dass ihnen zu begegnen das Beste gewesen sei, was ihr je passiert sei, sie würde sie nicht vergessen, da, wo sie leben werde, sei ihnen ein Platz sicher, was der Pferdezüchter vom Taravo mit einem Kopfnicken bestätigte, und mit einem beinahe väterlichen Gefühl sah Matthieu sie entschwinden, denn er zweifelte nicht daran, dass sein vormundschaftlicher Schatten sich für immer auf Sarahs Leben werfen werde. Matthieu war mit sich besonders zufrieden und stellte verdrossen
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