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Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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erwiesen« gilt, unhinterfragt an. Das finde ich sehr beängstigend.
    Ich finde nur unsere gegenwärtige Lage beängstigend. Die Menschen auf der Welt sind zu viel unnötigem Leiden ausgesetzt. Deshalb bin ich auf der Suche nach Methoden, das zu vermeiden.
    Murakami: Wie kam es überhaupt, dass Sie Mitglied von Aum Shinrikyo wurden?
    Ich las ein Buch über leichte Meditation, wie man sie zu Hause praktizieren kann, aber als ich es ausprobierte, geschah etwas sehr Seltsames. Ich hatte mich eigentlich gar nicht ernsthaft angestrengt, aber als ich meine Chakren reinigen wollte, wurde die Funktion meines Ki total schwach, das heißt, ich verlor an Vitalität. Durch die Reinigung der Chakren soll eigentlich die Lebenskraft gesteigert werden, aber das geschah nicht. Meine Chakren gerieten aus dem Gleichgewicht, und ich fühlte mich sehr schlecht. In einem Moment war mir unheimlich heiß, im nächsten zitterte ich vor Kälte. Ich hatte überhaupt keine Energie mehr und war ständig blutarm. Es war ziemlich gefährlich. Ich konnte nichts essen und wog am Ende nur noch 46 Kilo. Jetzt wiege ich 63. Im Unterricht wurde mir ständig schlecht, und ich konnte überhaupt nicht mehr richtig studieren.
    Irgendwann suchte ich das Aum-Dojo in Setagaya auf. Dort erklärte man mir meinen Zustand und sagte mir gleich an Ort und Stelle, was ich dagegen tun konnte. Ich versuchte es mit den Atemübungen, die sie mir beigebracht hatten, und es ging mir unwahrscheinlich schnell wieder besser.
    In den ersten zwei Monaten danach suchte ich das Dojo nur selten auf, aber später ging ich regelmäßig hin und half beim Falten von Flugblättern und so weiter. Bald fand eine »Geheim-Yoga-Sitzung« statt, während der man direkt mit dem Meister sprechen konnte. Ich fragte ihn [Shoko Asahara], was ich gegen meine angegriffene Gesundheit tun solle. »Du musst der Welt entsagen«, antwortete er. Mir war, als hätte er mein ganzes Wesen in einem Augenblick erfasst. Die Anwesenden wunderten sich, denn er hatte das noch nie zu jemandem gesagt. Also musste ich wohl notgedrungen das Studium abbrechen und der Welt entsagen. Ich war damals zweiundzwanzig.
    Nur ganz wenige haben gleich als Mönch angefangen. Aber ich war so schwach, dass ich kaum gehen konnte, und ich rechnete sowieso nicht damit, ein normales Leben führen zu können. »Du passt nicht in diese vergängliche Welt«, sagte er zu mir. Davon musste er mich wirklich nicht überzeugen. Es war eigentlich kein Gespräch – er sagte das einfach zu mir. Gewöhnlich sagte er überhaupt nichts, aber er konnte einen Menschen genau beurteilen, wenn er ihm nur ins Gesicht sah. Als wisse er alles über einen. Darum glaubten auch alle an ihn.
    Murakami: Wäre es nicht möglich, dass er sich, bevor er jemanden traf, in seinen Akten die Daten zu dieser Person ansah?
    Sicher, die Möglichkeit besteht, aber den Eindruck hatte ich damals nicht. Ich legte mein Gelübde 1989 ab, da gab es noch nicht so viele Mönche, etwa zweihundert. Am Ende waren es ungefähr dreitausend.
    Wenn er freundlich war, war er der freundlichste Mensch, dem ich je begegnet bin. Aber wenn er in Wut geriet, war er auch der furchterregendste Mensch, dem ich je begegnet bin. Der Unterschied war so frappierend, dass es einem richtig unter die Haut ging und man den Meister für einen Seher hielt, wenn man mit ihm sprach.
    Ich hatte schwer daran zu schlucken, dass ich Mönch werden sollte. Erstens wollte ich meinen Eltern keinen Kummer machen, und dann waren mir diese neuen Eso-Religionen sowieso unangenehm. Also versuchte ich, es meinen Eltern zu erklären. Es war schrecklich, denn sie weinten. Meine Eltern schimpften nicht, sie weinten. Das war ihre Art. Meine Mutter ist wenig später gestorben, das war sehr schlimm für mich. Sie war damals ohnehin allen möglichen psychischen Belastungen ausgesetzt, und die Sache mit mir hat ihr vielleicht den Rest gegeben. Mein Vater glaubt bestimmt, dass ich sie auf dem Gewissen habe.
    [Bald nachdem Herr Kano der Sekte beigetreten war, fanden die Wahlen zum japanischen Unterhaus statt, und Aum stellte mehrere Kandidaten auf. Herr Kano war sich sicher, dass Asahara gewählt werden würde; er kann es auch heute noch kaum fassen, dass fast niemand für Asahara gestimmt hatte. Viele von Asaharas Anhängern vermuteten einen Wahlbetrug. Später wurde Herr Kano dem Bauamt der Sekte zugeteilt und arbeitete in der Aum-Einrichtung in Naminomura, in der Präfektur Kumamoto.]
    Ich war ungefähr fünf Monate in

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