Untergrundkrieg
das juckt ihn nicht. Alle haben einen Zustand erreicht, in dem ihnen die Dinge des täglichen Lebens relativ egal sind. Und wenn etwas Schlimmes passiert, sagen sie nur: »Wieder ein bisschen schlechtes Karma gelöscht. Gut, dass es weg ist.« Und alle freuen sich. Fehler zu machen, getadelt zu werden bedeutet nur, dass soundso viel persönliches schlechtes Karma abgearbeitet wird ( lacht ). Die Aum-Leute sind ganz schön dickfellig, wenn man sich’s recht überlegt. Egal was passiert, es tut ihnen nicht weh. Darum sehen sie manchmal auf gewöhnliche Sterbliche herab. »Diese Jammerlappen, aber uns macht das alles nichts aus.« So ungefähr.
Murakami: Sie waren von 1989 bis 1995 bei Aum. Sind Ihnen in diesen sechs Jahren niemals Zweifel oder Fragen gekommen?
Ich habe nur Dankbarkeit empfunden, Befriedigung oder Erfüllung. Denn selbst wenn etwas sehr Unangenehmes passierte, erklärte man mir ausführlich den Sinn. Die Leute, die bereits höhere Bewusstseinsstufen erreicht hatten, waren brillant. Wenn man sich Joyu anguckt, weiß man Bescheid, und er war nur einer von vielen, die genauso beredt waren. Das Niveau bei Aum unterschied sich deutlich von dem in der äußeren Welt. Viele kamen mit nur drei Stunden Schlaf täglich aus. Hideo Murai zum Beispiel. Ihre geistige Kraft, ihr Urteilsvermögen – alles an ihnen war erstaunlich.
Murakami: Sind Sie Asahara zuweilen persönlich begegnet und konnten Sie mit ihm sprechen?
Ja. Früher, als es noch nicht so viele Mitglieder gab, haben sich die Leute oft mit ganz unerheblichen Problemen an ihn gewandt – »ich bin in letzter Zeit immer so müde« und dergleichen. Aber als die Gruppe größer wurde, war es nicht mehr möglich, so von Mensch zu Mensch mit ihm zu sprechen.
Ich habe an einer ganzen Reihe von Initiationen teilgenommen. Einige davon waren ganz schön hart. Besonders diejenige, die »Hitze« genannt wird. Damals wusste ich es nicht, aber es wurde uns auch LSD verabreicht. Man hat das Gefühl, nur noch aus Seele zu bestehen – den Körper spürt man gar nicht mehr, und man hat Einblick in die tiefsten Schichten des eigenen Unbewussten. Das war keine leichte Erfahrung, ich war danach völlig ausgelaugt. So fühlt man sich wahrscheinlich, nachdem man gestorben ist. Ich habe damals nicht gewusst, dass ich auf LSD war – ich nahm an, es sei ein Medikament, das mich bei meinen Askeseübungen unterstützen sollte.
Murakami: Aber einige Leute haben doch ziemlich schlechte Trips erlebt und schwere psychische Schäden davongetragen?
Das passierte, wenn eine zu hohe Dosis verabreicht wurde. Wir hatten ja das Gesundheitsministerium, das von Ikuo Hayashi geleitet wurde, aber das war nicht gerade toll. Wenn diese Leute wissenschaftlicher vorgegangen wären, hätte es wahrscheinlich keine Probleme gegeben. Außerdem sollten wir ja auch viele schwere Erfahrungen machen und sie überwinden. Trotzdem hätte man da sorgfältiger vorgehen müssen.
Murakami: Wo waren Sie während des Sarin-Anschlags auf die U-Bahn im März 1995? Was taten Sie gerade?
Ich saß allein in meinem Zimmer in Kamikuishiki und arbeitete am Computer. Ich hatte Zugang zum Internet und las dort oft die Nachrichten. Eigentlich war das nicht erlaubt, aber ich machte es trotzdem. Manchmal kaufte ich auch draußen eine Zeitung und gab sie an die anderen weiter. Wenn man erwischt wurde, gab es eine Verwarnung, aber das war nebensächlich.
Jedenfalls erfuhr ich von dem Anschlag übers Internet, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass Aum etwas damit zu tun hatte. Ich wusste zwar nicht, wer es gewesen sein konnte, aber ich war ganz sicher, dass es nicht Aum war.
Nach dem Anschlag fand in Kamikuishiki eine Razzia statt. Wir vermuteten, dass die Polizei unter einem Vorwand alle Angehörigen des Ministeriums für Wissenschaft und Technik verhaften würde, und hielten es für besser zu verschwinden. Ich nahm mir einen Wagen und fuhr durch die Gegend, während die Polizei das Gebäude durchsuchte. Die ganze Zeit war ich von Aums Unschuld überzeugt.
Ich war auch nicht wütend, als er [Asahara] verhaftet wurde. Für Aum-Mitglieder sind Gefühle wie Wut und Ärger Anzeichen für eine niedrige Bewusstseinsstufe. Tugendhaft ist es hingegen, sich einen tieferen Einblick in die Situation zu verschaffen und erst dann über das weitere Vorgehen nachzudenken.
Wir besprachen, was zu tun sei, und beschlossen, so unbeeinträchtigt wie möglich mit unseren asketischen Übungen fortzufahren. Wir fühlten uns
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