Untergrundkrieg
Fähigkeiten. Daran habe ich keinerlei Zweifel. Er konnte seine Predigten ungewöhnlich gut auf seine Zuhörer abstimmen und verfügte über eine starke persönliche Ausstrahlung. Später wurde ich ins Verteidigungsministerium versetzt und war für die Installation und Wartung von Kosmo-Saugern und anderen Luftfilteranlagen zuständig. Deshalb suchte ich auch zweimal in der Woche das Haus des Meisters auf. Ich war für die Wartung des Filters in seinem Wagen zuständig und hatte deshalb öfter Gelegenheit, persönlich mit ihm zu sprechen. Viele seiner Äußerungen regten mich zum Nachdenken an. Ich spürte, dass er bemüht war herauszufinden, was für meine Entwicklung das Beste war. Zwischen meinen Erfahrungen mit seiner Persönlichkeit und dem Bild, das man von ihm bei den Gerichtsverhandlungen gewinnt, besteht eine tiefe Kluft.
Immer wieder wurde ausgesagt, dass den Befehlen des Meisters unbedingt Folge zu leisten war. Ich war häufig nicht einer Meinung mit ihm, deshalb kann ich aus eigener Erfahrung sagen, dass er mit den Alternativen, die ich ihm vorschlug, in der Regel einverstanden war. »Gut«, sagte er in solchen Fällen, »dann machen wir es eben so.« Wenn man ihm seine Meinung offen sagte, hatte er keine Schwierigkeiten, darauf einzugehen. Zumindest hatte ich nicht das Gefühl, dass er irgendjemanden zu etwas zwang.
Murakami: Möglicherweise hat er sich je nach Art des Befehls und je nach Person unterschiedlich verhalten.
Das weiß ich natürlich nicht. Jeder scheint ein anderes Bild von Meister Asahara zu haben.
Murakami: Was bedeutete Shoko Asahara für Sie persönlich? Man kann ihn als Guru oder Mentor bezeichnen, aber wie Sie sagen, variiert sein Bild je nach Person sehr stark.
Für mich war er ein spiritueller Lehrer. Kein Prophet oder so etwas, sondern eine Person, die für mich die letzten Fragen der buddhistischen Lehre klären und die Schriften für mich deuten konnte. Man kann Sutren lesen, soviel man will, sie sind doch nichts als Worte auf Papier. Wenn man die Schriften allein studiert, und sei es auch noch so gründlich, kommen dabei – ich will nicht gerade Laien-Buddhismus sagen – aber doch hauptsächlich selbst gestrickte, zusammengestoppelte Deutungen heraus. Stattdessen ist es viel effektiver, unter richtiger Anleitung stufenweise zu einem guten Verständnis zu gelangen. Auf jeder Stufe sollte man innehalten und sich der eigenen Fortschritte vergewissern. Damit die Schulung in die richtige Richtung geht, braucht man einen Lehrer. Genau wie in der Mathematik. Und bis zu einem gewissen Niveau muss man diesem Lehrer vertrauen. Zuerst lernt man die Formel und erst dann ihren Gebrauch.
Murakami: Unterwegs treten aber doch manchmal Zweifel auf, ob der Lehrer wirklich in allem Recht hat. Was halten Sie übrigens von Armageddon oder den Freimaurern?
Was über die Freimaurer gesagt wird, halte ich teilweise für möglich. Natürlich glaube ich nicht alles.
Murakami: Im Lauf der Zeit hat sich der Charakter von Aum Shinrikyo verändert. Ein gewalttätiger Aspekt kam zum Vorschein. Es wurden Waffen hergestellt, Giftgase entwickelt und Menschen ermordet. Haben Sie davon etwas mitbekommen?
Nein, von diesen Dingen habe ich erst später erfahren. Als ich innerhalb von Aum lebte, habe ich davon überhaupt nichts gewusst. Ich habe nur gespürt, dass der Druck von außen stärker wurde, dass immer mehr Leute sich schlecht fühlten und körperliche Beschwerden hatten. Es tauchten auch zunehmend Spitzel auf.
Murakami: Wussten Sie, wer diese Spitzel waren und wer sie geschickt hatte?
Nein, aber die Sicherheitspolizei überwachte uns. Es gab sicher eine Menge Spitzel, auch wenn ich das nicht beweisen kann. Die Öffentlichkeit war natürlich von Anfang an davon überzeugt, dass Aum den Anschlag verübt hatte, aber wer weiß? Es ist nicht zu leugnen, dass Aum-Leute die Hauptdrahtzieher waren, aber es scheinen noch andere Individuen und Gruppen beteiligt zu sein. Licht in diese Fragen zu bringen würde große Probleme verursachen, also lässt man lieber alles, wie es ist. Natürlich wäre es auch schwer, etwas zu beweisen.
Murakami: Allerdings. Aber kehren wir zum Leben innerhalb Ihrer Gemeinschaft zurück. War es sehr geregelt?
Nein, überhaupt nicht. Als ich zum ersten Mal nach Aso kam, war ich sprachlos angesichts der vielen Fehlschläge und Unzulänglichkeiten. Wir bauten ein Gebäude und rissen es gleich wieder ab. Was wir gebaut hatten, war nicht das Richtige, also räumten wir es wieder
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